Im Schloss unserer Liebe
Handy bei sich“, sagte Kelly, während sie grub. Die Männer sahen sich schweigend an.
Wortlos grub auch Kelly weiter.
Es war eine anstrengende, stumpfsinnige Arbeit, und es gab keine andere Möglichkeit, als mit Händen, Schaufeln, Spaten und Eimern Tonnen von Schlamm, Erde, Steinen und Trümmern fortzubewegen. Ohnehin hätte keiner gewagt, Maschinen einzusetzen, aus Furcht, die Vibrationen könnten die Kellerdecke zum Einsturz bringen.
So gut es ging, ohne sich oder andere aufzuhalten, versuchte Kelly, sich bei den Männern, die als erste zur Stelle gewesen waren, zu erkundigen, was genau passiert war. Mit unbewegter Miene erzählten sie, wie sie den Kellerausgang geräumt hatten, weil von dort Rufe und Schreie gekommen waren. Als der Eingang fast freigelegt war und die Lehrerin die ersten Kinder hinausschicken wollte, hatte Rafael Einwände erhoben: „Ich muss prüfen, ob der Weg sicher ist.“
Mit einer Taschenlampe war er in der Dunkelheit verschwunden. Und plötzlich hatte sich der auf dem Felsvorsprung gesammelte Schlamm zu lösen begonnen. Die Helfer hatten sich gerade noch durch Flucht retten können, während die Schule unter Schlamm- und Geröllmassen begraben worden war.
Hatte Rafael Zeit gehabt, sich in den sicheren Keller zu retten? War der Keller überhaupt sicher gewesen? Solange die leisen Rufe noch vernehmbar waren, durften sie hoffen.
Es ging um Leben und Tod.
Kelly verschaffte sich die Übersicht, prüfte die Richtigkeit des Vorgehens, schätzte die Belastbarkeit der Stützkonstruktionen, schickte Leute los, um noch mehr Balken herantragen zu lassen.
Dass man ihren Anweisungen folgte und sie sogar um Rat fragte, wunderte sie. Schließlich konnte niemand wissen, dass sie auch etwas von Bergbau verstand. Alle kannten sie als Historikerin.
Irgendwann dämmerte ihr, warum die Menschen ihren Fähigkeiten trauten: weil sie die Prinzessin war.
Und in Matty sahen sie den Prinzen. Keine anderen kleinen Kinder wurden in der Nähe der Grabungsarbeiten geduldet. Nur Matty durfte bleiben. Er stand abseits, wo er nicht störte, und beobachtete die Rettungsaktion mit ernstem Gesicht.
Es war seine Pflicht, hier zu sein. So sah er das jedenfalls. Und danach handelte er. Den Menschen schien dies gutzutun.
Nicht nur, weil Rafael da unten war, konnte sie unmöglich von hier weggehen.
Auch nicht nur deshalb, weil zwanzig Kinder und eine Lehrerin verschüttet worden waren.
Wenn sie jetzt ginge, würde sie die berechtigten Erwartungen des Volkes enttäuschen. Ihre Position verpflichtete sie, zu bleiben und zu handeln. Um diese Verpflichtung hatten Kass und sein Vater sich wenig geschert und nur die Privilegien genossen.
„Die Geräusche werden deutlicher“, schrie jemand. „Man kann mehrere Stimmen unterscheiden.“
„Gott sei Dank“, rief Kelly zurück. „Jetzt die Stützen verstärken, keine unnötigen Risiken eingehen.“
„Ja, Madame.“
Kellys Hände waren inzwischen mit Blasen übersät. Niemand würde es ihr verübeln, wenn sie den Spaten jetzt beiseitelegte und die Arbeiten nur noch beaufsichtigte. Doch dass die Prinzessin tatkräftig mithalf, schien die anderen anzufeuern, ihnen Kraft zu geben. Deshalb ignorierte Kelly ihren Schmerz und schaufelte weiter. Sie tat es auch für Matty, der sie beobachtete. Der von Herzen gern mitgeholfen hätte. Doch das durfte sie nicht erlauben. Es war zu gefährlich, zu anstrengend für ihren kleinen Herzensprinzen.
Und sie tat es für Rafael, der irgendwo da unten war …
Vor allem seinetwegen durfte sie nicht kopflos werden.
Doch ihre Gedanken kreisten ständig um ihn. Immer wieder stellte sie sich die gleichen Fragen.
Wenn er den schützenden Kellerraum nicht mehr erreicht hatte … Wenn er vom herabstürzenden Geröll getroffen und darunter begraben worden war … Wenn sie seine Leiche finden würden zwischen all der Erde, dem Geröll, den Trümmern, dem Schlamm …
Die Angst schnürte Kelly die Kehle zu, heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wischte sie mit dem Ärmel fort, musste eine Pause einlegen.
„Geht es noch, Hoheit?“, fragte der Mann, der neben ihr schuftete.
Kelly sah in seine rot unterlaufenen Augen. „Haben Sie ein Kind da unten?“, flüsterte sie.
„Zwei. Heidi und Sophie, acht und sechs Jahre alt.“
„Dann haben wir keine Zeit für Tränen.“ Kelly wischte sich ein letztes Mal über das Gesicht und wusste, dass sie bis zum Ende durchhalten würde.
Irgendwann schien es so weit.
Alles ging so schnell,
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