Im Schloss unserer Liebe
Rafael.
Doch da rüttelte es schon am Tor, und jemand schrie aus Leibeskräften.
Völlig außer Atem und mit angstgeweiteten Augen stürzte ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren auf Rafael zu. An wen sonst, wenn nicht an den Mann in Uniform und Degen hätte er sich wenden sollen? „Monsieur“, rief er in der Landessprache. „Ein Erdrutsch. Oberhalb der Stadt ist der Hang abgerutscht. Die Häuser … Die Menschen … Wir brauchen Hilfe. Die Straßen sind blockiert. Sie müssen kommen. Bitte!“
Rafael fasste den Boten bei den Schultern und stellte ihm Fragen. Wegen der Uniform setzte der Junge offenbar großes Vertrauen in ihn. Doch in dessen Alter hatte er das Land bereits verlassen und besaß keine genauen Ortskenntnisse mehr, wie sie jetzt erforderlich waren.
Der mehr als siebzigjährige Crater war vertraut mit der Gegend, den Menschen und Hilfsorganisationen. Er eilte hinzu und wusste sofort Rat.
Wenn die Straße blockiert war, dann musste jemand zu Fuß über den Berg hinterm Schoss hinübergehen. Von dort hatte man bald Sicht über das Tal und konnte den Schaden vielleicht einschätzen.
„Das werde ich tun“, sagte Rafael. „Ich nehme mein Handy mit. Kelly, leih Crater dein Handy, damit ich mich mit ihm in Verbindung setzen kann.“
„Du wirst nicht allein dort hochsteigen!“, rief sie in Panik.
„Nein, das würde zu lange dauern. Ich nehme ein Pferd.“
Kelly hielt die Luft an. Rafael wollte reiten …?
„Sie sind der Prinz. Sie werden den Menschen beistehen.“ Crater lächelte.
„Und Sie leiten den Räumungstrupp und fordern weitere Hilfskräfte an. Du, Kelly, hast hier im Schloss das Sagen.“
Doch für Kelly gab es nichts zu tun. Alle gingen fort. Sogar die Älteren wie Laura und Ellen. In Wanderschuhen machten sie sich auf in die Stadt, um in dem dortigen kleinen Krankenhaus ihre Hilfe anzubieten.
„Lass uns doch auch gehen“, bat Matty immer wieder.
„Da würden wir nur im Weg stehen“, erklärte ihm Kelly. „Außerdem ist die Straße noch nicht geräumt. Nein, wir müssen hierbleiben und das Schloss bewachen.“
„Aber das ist doch feige, wenn alle anderen mithelfen.“
Ihr Sohn hatte nicht unrecht. Auch sie wäre lieber aufgebrochen. Allein schon, um sich ein Bild vom Ausmaß des Unglücks zu machen. Die Angst um Rafael und die Sorge um die Bewohner der kleinen Stadt wuchsen von Minute zu Minute. Doch weil niemand da war, dem sie Matty anvertrauen konnte, musste sie bleiben.
„Ich bin der Prinz, und du bist die Prinzessin“, versuchte ihr Sohn sie zu überzeugen. „Crater sagt, es ist unsere Aufgabe, den Menschen von Alp de Ciel zu helfen.“
Kelly wurde ungeduldig. „Du bist ein kleiner Junge, und ich bin keine Prinzessin. Lass uns jetzt Scrabble spielen.“
Ihr Sohn schaute sie an, als sei sie nicht bei Sinnen. „Gut“, sagte er schließlich. „Wollen wir oben bei dir spielen?“
„Ja, warum nicht?“
„Dann hol ich das Spiel aus meinem Zimmer.“ Und schon rannte er los.
Doch Matty kam nicht zurück. Kelly suchte ihn im Wirtschaftstrakt, wo die Haushunde untergebracht waren. Eine der Hündinnen sollte werfen, und Kelly hatte Marsha versprochen, alle halbe Stunde nach dem unruhigen Tier zu sehen. Nun lag es friedlich in seinem Korb und säugte seine drei Welpen.
„Braves, tapferes Tier“, sagte Kelly und tätschelte der Hündin den Kopf. „Du weißt, wo dein Platz ist. Bei deinen Jungen.“
Oben in ihrer Dachkammer fand sie Matty auch nicht. Vielleicht hatte er das Scrabble-Spiel verlegt. Also ging sie hinunter in sein Zimmer.
Die Unruhe in ihr wuchs. Sie wusste nichts Näheres über den Erdrutsch. Noch war keiner der Helfer mit Neuigkeiten zurückgekehrt. Auch Rafael, Laura und Crater nicht. Es war schwer, hier tatenlos abzuwarten und auf Matty aufzupassen.
Aber wo steckte er?
In seinem Zimmer jedenfalls nicht.
Plötzlich wurde ihr elend zumute.
„Matty!“, schrie sie, während sie die leeren Korridore entlanglief. „Matty!“
Das Getrappel von Pferdehufen auf Kopfsteinpflaster alarmierte sie. Sie stürzte ans nächste Fenster und riss es auf. „Matty!“
Entweder hört er sie nicht, oder er ignorierte ihr Rufen. Jedenfalls sah er nicht zu ihr herauf. Er saß auf einem Pferd. Weiß der Himmel, wie er es geschafft hatte, eines der kleineren Tiere zu satteln.
Wenigstens schien er ein recht guter Reiter zu sein. Er hielt sich aufrecht, zerrte nicht am Zügel, sondern führte das Tier mit dem Druck seiner Schenkel. Das Pferd gehorchte
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