Im Schutz der Schatten: Roman (German Edition)
fauchte der Junge.
Obwohl er sich taff gab, zitterte seine Unterlippe bedenklich. Irene blieb vor den beiden stehen. Gelassen sagte sie:
»Dein Bruder liegt im Krankenhaus, weil er so viel Rauschgift genommen hat, dass er fast daran gestorben wäre. Er ist sehr krank. Wir haben eine große Menge Drogen in seinem Zimmer gefunden. So viel Rauschgift kann nicht einmal die Polizei beschaffen, um sie jemandem unterzuschieben. Er selbst hat alles dort versteckt, um es an Junkies zu verkaufen. Für Geld setzt er das Leben anderer Menschen aufs Spiel. Sie sterben an dem Rauschgift, das er verkauft, aber das ist ihm egal.«
Sirwe sah aus, als hätte man sie geohrfeigt. Auf ihren bleichen Wangen tauchten zwei rote Flecken auf. Der Junge verstand vermutlich nicht ganz, was Irene gesagt hatte. Der Ausdruck seiner Augen blieb unverändert. Warum erzähle ich das überhaupt einem kleinen Jungen, überlegte Irene. In ihrem Innersten wusste sie jedoch, warum sie das getan hatte. Sie war es leid, stets von allen Seiten angezweifelt zu werden. Dieser kleine Junge würde in einigen Jahren Steine auf die Feuerwehrleute und Polizisten werfen, die in den Vororten unterwegs waren, weil Jugendbanden Autos in Brand gesteckt hatten. Vielleicht würde er auch in die Fußstapfen seines Bruders treten und eine Laufbahn in den höheren Kreisen der Berufskriminellen beginnen. Es half nichts, dass die Eltern ordentliche Leute waren. Das leicht verdiente Geld und das Gemeinschaftsgefühl in den Banden stellten eine große Verlockung dar. Respekt, schnelles Geld und Identität waren die Stichworte. Die jungen Männer wollten ihren eigenen Weg gehen. Leider führte dieser unerbittlich auf den Abgrund zu, immer tiefer in den Drogensumpf und in die kriminelle Unterwelt.
Matti Berggren blieb im Reihenhaus von Familie Ekici zurück und wartete auf die Verstärkung von der Spurensicherung. Zusammen mit den Kollegen vom Rauschgiftdezernat würden sie das ganze Haus durchsuchen. Sirwe war mit ihrem Sohn zu ihrer Schwester geschickt worden, die nur einen Steinwurf entfernt wohnte.
Auf dem Weg ins Krankenhaus versuchte Irene ihre Gedanken zu ordnen. Plötzlich waren da lauter neue Puzzleteile, dank derer allmählich ein Bild entstand, obwohl noch einige Teile fehlten.
Kazan hatte eine unfassbare Menge Rauschgift zu Hause aufbewahrt, obwohl er in keinster Weise der Führungsschicht der Gangster Lions angehörte. So viel Vertrauen genoss er nicht. Schon allein deswegen nicht, weil alle wussten, dass er selbst ein Junkie war. Woraus sich schließen ließ, dass er das Zeug vermutlich nicht für die Gangster Lions aufbewahrt hatte. Aber für wen dann? Eine andere Gruppe? Das hätte Danni Mara wohl kaum toleriert. Aber Danni Mara war ermordet worden. War Kazan der Täter? Wenig wahrscheinlich. Außerdem besaß er ein wasserdichtes Alibi, denn er hatte sich mit mehreren anderen Personen auf der Terrasse aufgehalten, als die Schüsse gefallen waren, und bereits zu diesem Zeitpunkt war er sturzbetrunken gewesen.
Aber Kazan war ein Junkie. War das Kokain zumindest teilweise für den eigenen Gebrauch vorgesehen gewesen? Diesen Verdacht hegte Irene, da er eine Überdosis des reinen Kokains geschnupft hatte. Vermutlich hatte er nicht gewusst, dass es um ein Vielfaches stärker als normales Kokain war.
Matti hatte gesagt, dass Kokain nur in den seltensten Fällen in dieser reinen Form nach Schweden gelangte wie bei den Päckchen, die sie bei Kazan gefunden hatten, der Fall. Während einer Fortbildung hatte auch Irene gelernt, dass das Kokain auf seinem Weg von Südamerika nach Europa oft sogar mehrmals gestreckt wurde. Ein üblicher Zusatz war ein Wurmmittel, das Tetramisol enthielt. Beim Reinheitstest durch die Großabnehmer verursachte es dasselbe ätzende Gefühl auf der Mundschleimhaut wie echtes Kokain. Tetramisol konnte jedoch sowohl bei Mensch als auch Tier tödliche Nebenwirkungen haben. Ein anderes übliches Mittel zur Streckung des Kokains waren zu Pulver gestampfte Schmerztabletten, deren Haltbarkeit abgelaufen war und die deswegen billig auf dem Schwarzmarkt verkauft wurden. Im Grunde genommen schnupfte der Jetset also Backpulver, zerstoßene Schmerztabletten oder Wurmmittel, angereichert mit etwas Kokain, ganz schön dumm, dachte Irene und verzog leicht den Mund.
Die Frage, die alles andere überschattete, war natürlich, wo Kazan die Drogen herhatte. Er hatte sie ja wohl kaum selbst gekauft. Möglicherweise gestohlen. Die logische Folgefrage lautete:
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