Im Schutz der Schatten: Roman (German Edition)
Vom wem? Diese Frage war schon nicht mehr so leicht zu beantworten. Er konnte es den Gangster Lions gestohlen haben. Aber hätte man ihn in die Nähe solcher Mengen gelassen? Aus Erfahrung wusste Irene, dass nur die Bosse Zugang zu dem Stoff hatten, obwohl sie sich nicht direkt damit abgaben, wenn es darum ging, ihn an die Süchtigen weiterzuverkaufen. Dabei wurde man zu leicht geschnappt. Dieser Drecksjob wurde Laufburschen überlassen.
Blieb also nach wie vor die Frage, wo er das Kokain herhatte, und diese würde sie ihm gleich stellen, wenn sie ihn im Krankenhaus traf.
Eine freundliche, aber gestresste Schwester der kardiologischen Intensivstation erklärte Irene, Kazan sei am Vormittag auf die normale Station verlegt worden. Irene begab sich mit dem Fahrstuhl dorthin. Die Schwester im Schwesternzimmer warf Irene einen scharfen Blick zu, als diese mitteilte, sie wolle mit Kazan Ekici sprechen.
»Einen Moment bitte. Dr. Enkvist möchte erst mit der Polizei sprechen«, sagte sie und drückte auf eine Gegensprechanlage.
Sofort ließ sich eine Männerstimme vernehmen:
»Enkvist.«
»Die Polizei ist hier und möchte sich mit Kazan Ekici unterhalten«, teilte die Schwester mit.
»Führen Sie ihn bitte in mein Büro.«
»Gerne, aber es ist eine Sie.«
Letzteres hörte der Arzt nicht mehr. Er hatte die Verbindung bereits unterbrochen.
Irene folgte der Schwester, die mit energischen Schritten den Weg wies. Sie blieb vor einer Türe stehen, klopfte und wartete, bis eine Stimme »Herein« sagte. Erst dann drückte sie die Klinke und öffnete die Tür.
»Polizeiassistentin Irene Hysén«, teilte sie mit und schob Irene über die Schwelle.
»Kriminalinspektorin Irene Huss«, berichtigte sie Irene.
Der Arzt mittleren Alters betrachtete sie über den Rand einer billigen Lesebrille. Müdigkeit und unzählige Zigaretten hatten tiefe Falten in sein mageres Gesicht gegraben. Dass er Kettenraucher war, ging deutlich aus dem Zigarettengeruch im Zimmer sowie einer Schachtel Marlboro auf dem Schreibtisch hervor. Unbeholfen unternahm er einen Versuch, die wenigen, in alle Richtungen abstehenden Strähnen auf seinem Kopf glattzustreichen. Er erhob sich andeutungsweise, ließ sich dann aber sofort wieder auf seinen Stuhl zurückfallen.
»Bitte nehmen Sie doch Platz, dann sehen wir, womit ich Ihnen weiterhelfen kann«, sagte er und deutete auf den Stuhl, der auf der anderen Seite des Schreibtischs stand.
Eine Floskel, mit der alle Patienten bedacht werden, dachte Irene etwas verärgert, zwang sich jedoch zu einem Dank und einem Lächeln. Dr. Enkvist beugte sich über den Schreibtisch vor und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte. Bedächtig nahm er die Brille ab und klappte sie zusammen. Mit etwas Mühe gelang es ihm, sie in der Brusttasche zwischen unzähligen Kugelschreibern zu verstauen.
»Ich habe den Schwestern gesagt, dass ich vor einer Vernehmung gerne mit der Polizei sprechen will«, begann er.
Noch ehe Irene etwas erwidern konnte, machte er eine abwehrende Handbewegung und fuhr fort:
»Ich weiß. Die Ermittlung ist wichtig und so weiter. Aber das Befinden des Patienten unterliegt meiner Verantwortung. Meiner Beurteilung nach ist Kazan Ekici nicht in der Verfassung, vernommen werden zu können. Ich möchte Ihnen erklären, warum.«
Er verstummte und betrachtete seine Hände, die er vor sich auf dem Tisch gefaltet hatte. Die Fingerspitzen der rechten Hand waren nikotingelb. Irene beschloss abzuwarten und schwieg.
»Kazan hat eine sehr große Überdosis eingenommen. Es ist mehrfach zu Atemstillstand gekommen, und er leidet immer noch an einer schweren Arrhythmie. Das Herz ist stark geschädigt. Es besteht die Gefahr, dass auch sein Gehirn in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Er bekommt verschiedene Medikamente in hoher Dosierung. Überwiegend Mittel für sein Herz, aber auch Beruhigungsmittel. Daher ist er recht benommen. Wir wissen nicht, ob die Schäden von Dauer sein werden, aber …«
Er breitete die Hände aus und sah Irene mit seinen ausdruckslosen Augen an.
»So wie es jetzt aussieht, möchte ich ihm jede Beunruhigung ersparen.«
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, um die Unumstößlichkeit seines Be schlusses zu unterstreichen. Manchmal bin ich es wirklich leid!, dachte Irene. Sie versuchte, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen.
»Ich verstehe. Aber es verhält sich nun einmal so, dass in der vergangenen Woche drei Morde verübt wurden, die alle auf das Konto der
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