Im Schutz der Schatten: Roman (German Edition)
Auftrag. Komm nach der Besprechung in mein Büro.«
Irene wusste, dass es unmöglich war, sie nach Gårda zu schicken. Seit dem Abend von Danni Maras Ermordung, kannten sie viele Gangster-Lions-Mitglieder. Außerdem wussten auch die Gothia- MC -Leute inzwischen, wer sie war. Kazans Mörder waren sicher zur Rechenschaft gezogen worden, weil sie sie im Krankenhaus nicht ebenfalls erschossen hatten. Die Gelegenheit hatte sich geboten. Aber sie waren wohl so auf die Ermordung Kazans konzentriert gewesen, dass sie nicht realisierten, wer sie war. Ein zweites Mal würde sie jedoch nicht so viel Glück haben, falls sie noch einmal mit einem Handlanger des Gothia MC zusammenstieß.
Auf dem Weg zu Tommys Büro bog Irene noch kurz Richtung Kaffeeautomat ab. Tommy erwartete sie bereits auf seinem Stuhl schaukelnd. Irene stellte einen Kaffeebecher vor ihn auf den Schreibtisch. Seine Miene hellte sich auf, und er bedankte sich. Jetzt strahlten sogar seine Augen, und er war fast wieder der Alte. Das Wissen, jemanden von der fünften Kolonne im Präsidium zu haben, hatte offenbar schwer auf ihm gelastet. Nun schien er voller neuer Energie zu sein. Das war sicherlich gut, aber gleichzeitig auch etwas merkwürdig, denn sie hatten es immer noch mit sechs Morden, wenn man den Doppelmord auf der Halbinsel Getterön mitrechnete, zwei Bombenanschlägen und einem Gangsterkrieg zu tun. Außerdem bereiteten sie einen Großeinsatz vor, von dem niemand wusste, wie er enden würde.
»Und was ist mit Ann Wennberg passiert?«, fragte Irene.
»Wir haben Ann in einem Vernehmungsraum ein Stockwerk tiefer eingeschlossen. Ohne Handy oder andere Möglichkeiten, nach draußen zu kommunizieren. Die Wachen haben den Bescheid erhalten, sie auf keinen Fall rauszulassen. Sie wirkten etwas erstaunt, fragten aber nicht weiter, als ich sagte, dass gegen sie dringender Tatverdacht besteht und dass sie umgehend in U-Haft genommen wird«, antwortete Tommy.
»Wird Anklage gegen sie erhoben?«
»Allerdings. Sie muss mit etlichen Jahren hinter Gittern rechnen. Und natürlich wird sie gefeuert«, meinte er trocken.
»Warum habt ihr den Kollegen während der Besprechung nichts davon erzählt?«
»Wir wollen noch ein paar Stunden abwarten. Sie muss verhört werden, damit wir mehr erfahren. Bei der Besprechung heute Nachmittag werden wir bekannt geben, dass der Informant enttarnt ist«, sagte er zufrieden.
Einen Augenblick lang tat Ann Irene leid. Dann rief sie sich jedoch in Erinnerung, was Ann mit ihrem falschen Spiel angerichtet hatte. Sie hatte nicht nur die Ermittlungen der Polizei sabotiert, indem sie die Verbrecher gewarnt hatte. Menschen waren aufgrund ihrer Berichte an den Gothia MC zu Tode gekommen. Sie selbst war verfolgt worden und beinahe in die Hände der Bande geraten. Nein, es bestand kein Grund, Ann zu bemitleiden.
»Wir beide sollten die erste Vernehmung durchführen«, sagte Tommy.
Das glänzende rote Haar saß gepflegt wie immer. Die Augen waren mit einem dünnen Eyeliner und wenig Wimperntusche betont. Das Make-up war perfekt, von Tränen keine Spur. Nichts an ihrer aufrechten Haltung ließ auf Reue schließen.
Irene und Tommy nahmen Platz und begannen die Vernehmung. Ann antwortete zunächst nur einsilbig oder überhaupt nicht. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie etwas ausführlichere Antworten gab. Ann bestätigte, was Hannu über ihre und Patriks Kindheit herausgefunden hatte.
»Ich tat mein Möglichstes. Aber das reichte nicht. Ich war zu jung«, sagte sie.
Das klang wie eine Entschuldigung. Zum ersten Mal während des Gesprächs hatte Irene den Ein druck, dass Ann wirklich berührt war. Patrik war ihr schwacher Punkt. Nach dieser Einsicht änderte Irene ihre Taktik. Vorsichtig fragte sie:
»Warum hielten eure beiden älteren Bruder keinen Kontakt zu Patrik?«
»Eben weil sie älter waren. Sie zogen von zu Hause aus, als er zur Welt kam«, sagte Ann verächtlich.
»Aber du bist geblieben«, stellte Irene fest.
»Ja.«
Ann schluckte und wich Irenes Blick aus. Irene war klar, dass Patrik eine schwere Kindheit gehabt hatte. Die Menschen in seiner Nähe hatten mehr als genug mit ihren eigenen Problemen zu tun gehabt, niemand hatte sich um ihn gekümmert. Außer seiner Schwester. Sie hatte ihr Bestes getan.
»Ich war erst dreizehn, als er zur Welt kam. Er … er war so klein … und …«
Ann schluchzte. Tränen traten ihr in die Augen, und sie bat leise um ein Taschentuch. Tommy reichte ihr ein paar Kleenex aus einer
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