Im Schutz der Schatten: Roman (German Edition)
er wollte. In all den Jahren, die sie sich jetzt kannten, hatte sie noch nie darüber nachgedacht, aber jetzt bemerkte sie plötzlich, wie attraktiv er war. Er hatte zwar bereits etwas schütteres Haar und war früher einmal schlanker gewesen, hatte sich aber im Großen und Ganzen doch gut gehalten. Seine braunen Augen funkelten, und sein strahlendes Lächeln hätte einen Eisberg in null Komma nichts zum Schmelzen bringen können. Er schien aber nach der Geschichte mit Efva Thylqvist nicht mehr aktiv nach einer neuen Frau gesucht zu haben. Wahrscheinlich hatte sein Selbstbewusstsein einen Dämpfer erhalten und würde einige Zeit brauchen, bis es wiederhergestellt war. Efvas Verrat war einfach zu groß gewesen.
»Woran denkst du?«, fragte er.
Irene zuckte zusammen und kam sich ertappt vor.
»Daran, was Hannu in Erfahrung gebracht haben könnte«, improvisierte sie rasch.
Es wirkte, als nehme er ihr diese Lüge ab.
»Ja. Das interessiert mich auch.«
Er legte die Göteborgs-Posten auf den Tisch und fragte:
»Welchen Teil willst du? Das Feuilleton?«, fragte er.
»Sport«, antwortete Irene und schnappte sich den Sportteil.
Mein Gott, das wirkt fast so, als seien wir seit Jahren verheiratet, dachte sie. Aber das Feuilleton las sie nie.
Schweigend frühstückten sie und lasen die Zeitung.
Punkt halb acht betrat Irene Hannu Rauhalas Büro. Er saß bereits an seinem Schreibtisch. Etwas anderes hatte sie auch gar nicht erwartet. Außerdem hatte Hannu zwei Tassen Kaffee auf den Tisch gestellt.
Hannu erkundigte sich nach Irenes Befinden, aber sie spielte ihre Beschwerden herunter und stellte ihm sogleich einige Fragen. Hannu hob abwehrend die Hände und sagte:
»Ich fange ganz vorne an. Mehrere Mordermittlungen gleichzeitig. Die Lage ist chaotisch. Deswegen dauerte es eine Weile, bis ich alles verifiziert hatte.«
Er räusperte sich und nippte an seinem Kaffee. Irene wusste, dass er ihn immer fürchterlich süß trank, aber so schmeckte er ihm nun einmal. Soweit sie wusste, war das seine einzige Charakterschwäche.
»Patrik Karlsson kam in Trollhättan zur Welt. Ein Nachzügler. Er hatte drei bedeutend ältere Geschwister. Die Brüder waren zwanzig beziehungsweise achtzehn Jahre älter als Patrik. Seine Schwester war bei seiner Geburt dreizehn. Die Eltern waren Alkoholiker, und die Schwester übernahm die Mutterrolle. Die Eltern ließen sich scheiden, und Patrik zog mit seiner Mutter nach Vänersborg. Dort lernte die Mutter einen neuen Mann kennen und zog mit ihm nach Göteborg. Der neue Mann war ebenfalls Alkoholiker. Niemand kümmerte sich um Patrik. Er schloss sich rasch einer kriminellen Gang, den Desperados, an. Patriks richtiger Vater starb an einem Schlaganfall, als Patrik vierzehn war. Seine Brüder übernahmen seine Autofirma.«
Hannu verstummte, um Luft zu holen und sich einen Schluck Kaffee zu genehmigen. Irene war ziemlich erstaunt. So viele zusammenhängende Sätze hatte sie ihn noch nie sprechen hören, obwohl sie jetzt schon seit zwölf Jahren zusammenarbeiteten.
»Der neue Mann machte die Biege, und Patrik blieb mit seiner Mutter allein. Sie war ein physisches und psychisches Wrack. Seine Schwester setzte sich für Patrik ein, aber dieser war mittlerweile ein krimineller Teenager, der seine eigenen Wege gehen wollte. Trotzdem blieben sie in Verbindung und schienen sich nahezustehen.«
Hannu verstummte erneut. Er holte tief Luft. Irene war klar, dass jetzt die Pointe kommen würde.
»Die Schwester wurde Polizistin. Damals hieß sie noch Ann Karlsson. Nach einigen Jahren heiratete sie einen Kollegen namens Wennberg. Nach einem Jahr ließen sie sich wieder scheiden, aber sie behielt den Nachnamen.«
Irene starrte ihn sprachlos an. Konnte das wahr sein? Ann Wennberg war Patrik Karlsson Schwester! Hannu nickte und sagte:
»So ist das. Sie waren Geschwister. Die Brüder übernahmen die Autowerkstatt des Vaters, und sie wurde Polizistin. Das Interesse an Motorrädern verbindet die Geschwister.«
»Allerdings«, brachte Irene mit Mühe über die Lippen.
Die neuen Informationen schockierten sie. Plötzlich wirkte die gestrige Theorie über den Informanten abwegig. Es war Ann Wennberg. Aber Stefan Bratt hatte Tommy am Telefon doch gesagt, dass er alleine in seinem Büro war. Wie ließ sich das erklären?
»Was weißt du über Stefan Bratt?«, fragte sie schnell.
Doch Hannu schien der überraschende Themawechsel nicht zu erstaunen.
»Er ist 42 Jahre alt. Geschieden. Keine Kinder. Er hat eine
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