Im Sog der Angst
gemacht. Sie war ein Jahr älter als ich, hatte aber mit dem Graduiertenstudium erst kurz nach meinem Abschluss begonnen. Ihre Dissertation über Stillen und Besorgnis junger Mütter war fünf Jahre später angenommen worden, und anschließend hatte sie als Assistenzärztin an einem der Universitätskrankenhäuser gearbeitet und ein Forschungsstipendium an einer psychiatrischen Klinik in San Bernardino erhalten.
Ihre Lizenz war in Ordnung, und die staatliche Aufsichtsbehörde verzeichnete keine Disziplinarmaßnahmen gegen sie. Ich hatte Recht mit der Vermutung gehabt, dass sie keine Ausbildung oder Zeugnisse in Neuropsychologie vorzuweisen hatte.
Ihr Name erzielte 423 Treffer im Internet, alles Auszüge aus Interviews, die sie in verschiedenen Fernseh- und Radiosendungen gegeben hatte. Bei genauerem Hinsehen entpuppten sich viele davon als Wiederholungen; sie reduzierten sich auf drei Dutzend tatsächliche Referenzen.
Mary Lou Koppel hatte mit großer Selbstsicherheit über Kommunikationsschranken zwischen Männern und Frauen gesprochen, über Geschlechteridentität, Essstörungen, Methoden zum Abnehmen, Problemlösung in Unternehmen, Midlife-Crisis, Adoption, Lernbehinderungen, Autismus, Pubertätsprobleme, prämenstruelles Syndrom, das Klimakterium, Panikanfälle, Phobien, chronische Depression, posttraumatischen Stress, Sexismus, Rassismus, Diskriminierung der Alten, Diskriminierung der Kleinen.
Ein Thema, an dem sie seit längerer Zeit interessiert war, war die Gefängnisreform. Sie hatte im letzten Jahr acht Interviews im Radio gegeben, in denen sie den Wandel von Rehabilitation zu Bestrafung verurteilte. In zwei von diesen Gesprächen war sie von einem Mann namens Albin Larsen begleitet worden, der als Psychologe und Menschenrechtler aufgeführt war.
Die Fotos, die ich fand, zeigten eine freundlich aussehende Frau mit kurzen, zottigen hellbraunen Haaren. Sie hatte ein rundliches Gesicht mit Hamsterbacken, das in einem spitzen, nicht ganz in der Mitte sitzenden Kinn auslief. Ihr Hals war anmutig, bekam aber die ersten Falten. Wache, dunkle Augen. Breiter, entschlossener Mund. Herrliche Zähne, aber ihr Lächeln wirkte gestellt. Auf jedem Bild trug sie rot.
Jetzt wusste ich, nach wem ich Ausschau halten musste.
Am nächsten Morgen machte ich mich um Viertel vor zwölf auf den Weg zu ihrer Praxis, weil ich mir dachte, dass meine Chancen, sie zu erwischen, in ihrer Mittagspause am besten standen. Ihre Praxis lag in Beverly Hills, aber nicht in der Couch-Reihe des Bedford Drive oder einer der anderen eleganten Straßen, wo sich teure Psychotherapeuten versammeln.
Dr. Mary Lou Koppel betrieb ihr Geschäft in einem zweistöckigen Haus an der Ecke Olympic Boulevard und Palm Drive - ein gemischtes Gewerbegebiet in der Nähe des schicken Südrands der Stadt. Im selben Häuserblock befanden sich ein Autolackierbetrieb und eine Privatschule in einem ehemaligen Zweifamilienhaus. Dahinter lagen ein Blumengeschäft und eine Apotheke, die mit Rabatten für Senioren Reklame machten. Der Verkehr auf dem Olympic rauschte ununterbrochen und mit Freeway-Lautstärke vorbei.
Koppels Haus hatte eine fensterlose Vorderseite, deren Ziegelverkleidung die Farbe nassen Sandes hatte. Abgesehen von schwarzen Plastikzahlen, die zu klein waren, um von der anderen Straßenseite entziffert werden zu können, gab es keinerlei Hinweise zur Identifizierung. Die Vordertür war verschlossen, und ein Schild verwies auf einen Eingang an der Rückseite. Hinter dem Gebäude gab es einen Parkplatz für sechs Wagen an einer Gasse. Auf drei als RESERVIERT gekennzeichneten Stellplätzen standen kleine, dunkle Mercedes-Limousinen, die so ähnlich aussahen wie die Jerry Quicks.
Ich fütterte eine Parkuhr auf dem Palm Drive und betrat das Haus durch die hintere Tür.
Das Erdgeschoss war ein langer, düsterer, mit rotem Teppichboden ausgelegter Korridor, der an der Ostseite des Gebäudes verlief und den Popcorngeruch eines Kino-Foyers verströmte. Einziger Mieter war eine Firma namens Charitable Planning. Ein auf die Wand gemalter Pfeil dirigierte mich zur Treppe, und als ich dort ankam, erläuterten Lettern aus falschem Bronze, was mich im ersten Stock erwartete.
PSYCHOLOGISCHER SERVICE PACIFICA-WEST
Oben lag zinnfarbener widerstandsfähiger Teppichboden, die Wände waren graublau gestrichen, und die Beleuchtung war besser. Im Gegensatz zum Erdgeschoss gab es keinen langen Gang. Drei Meter von der Treppe entfernt war eine senkrechte Wand eingezogen
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