Im Sog der Sinnlichkeit
Nur in den Augen des alten Dieners spiegelte sich etwas von dem Schmerz und der Resignation, die Benedick selbst empfand.
Am Nachmittag hatte er sich in der Bibliothek aufgehalten und darauf gewartet, bis Brandon sich endlich bequemte, den Tag zu beginnen. Benedick hatte keine Ahnung, welchen Ausschweifungen er nachts gefrönt hatte, und es interessierte ihn auch nicht. Aber er konnte die Augen nicht länger vor der Selbstzerstörung seines Bruders verschließen und hatte sich vorgenommen, ihn zur Rede zu stellen.
Und dann hätte er die Gelegenheit zu einer Unterredung beinahe verpasst. Brandon war in seiner ungestümen Art nie ein leiser Mensch gewesen. Und mit seinem lahmen Bein und dem damit verbundenen, ihm eigenen Gang hörte man ihn schon von Weitem. Aber auch Brandon kannte seinen Bruder nur zu gut und hatte gewartet, bis Benedick in seine Lektüre vertieft war, ehe er sich an der offenen Tür zur Bibliothek vorbeischlich. Und er hätte es beinahe geschafft, wenn Benedick nicht den Blick gehoben hätte.
„Ich muss mit dir sprechen.“ Er hatte geklungen wie sein Vater, wenn er fuchsteufelswild war, und dämpfte die Stimme. „Brandon, bitte.“
„Tut mir leid, Bruderherz“, brummte Brandon, ohne ihm in die Augen zu sehen. „Ich habe eine Verabredung und will meine Freunde nicht warten lassen.“
„Nur ein paar Minuten. Setz dich zu mir, bitte.“
Brandon verzog sein entstelltes Gesicht, und Benedick fürchtete, er würde einfach weitergehen. Doch dann besann sein Bruder sich, trat ein und setzte sich mürrisch.
Er sah elend aus. Die versehrte Gesichtshälfte heilte zwar allmählich, aber er war totenbleich, unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, die Wangen waren eingefallen, seine Lippen bildeten einen schmalen Strich, und seine Hände zitterten. Am schlimmsten war der Ausdruck seiner Augen. Die Augen eines Mannes, der mit dem Leben abgeschlossen hatte.
Was war nur mit dem aufgeweckten Jungen geschehen, der wie ein junger Hund durchs Leben gestürmt war? Natürlich wusste Benedick genau, was mit ihm geschehen war. Er suchte vor den namenlosen Gräueln des Krieges und den unerträglichen Schmerzen seiner Verwundungen Vergessen und Betäubung im Rauschgift. Alles zusammen hatte ihn zu einem menschlichen Wrack gemacht, und der lebenslustige Brandon von früher war wohl für immer verloren. Aber Benedick war nicht bereit, ihn völlig aufzugeben.
„Ich nehme an, du erwartest eine Entschuldigung, weil ich meinen Mageninhalt über dich entleert habe“, begann Brandon. „Ich erinnere mich zwar nicht daran, aber Richmond hat mir ordentlich den Marsch geblasen. Erstaunlich, dass der alte Mann mir schlimmere Gewissensbisse einjagen kann als du und unser Vater zusammen. Nur noch Mama gelingt das ebenfalls blendend.“
„Leider befindet sie sich mit Vater auf einer Ägyptenreise, sonst würdest du vielleicht mit diesem schauderhaften Benehmen aufhören.“
Brandon verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Bruderherz, du hast keine Ahnung, was schauderhaft bedeutet, und ich sehe keinen Sinn darin, dich darüber aufzuklären. Ehrlich gestanden, tut es mir nicht einmal leid, dich bekotzt zu haben. Du hast es zweifellos verdient.“
„Ich weiß deine Hochachtung zu schätzen“, entgegnete Benedick trocken. „Hast du etwas mit dem Satanischen Bund zu tun?“ Die Frage kam ihm ungewollt brüsk über die Lippen.
Brandon zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Falls du an einer Mitgliedschaft interessiert bist, rate ich dir davon ab. Du bist zu engstirnig.“
Benedick hätte beinahe aufgelacht über diese Bemerkung, da ihm jahrelang vorgeworfen worden war, zu tolerant zu sein. Aber das war im Moment die geringste seiner Sorgen. „Dann bist du also Mitglied?“
Brandon zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Im Satanischen Bund gilt die strikte Regel der Anonymität, was ich sehr schätze. Man will schließlich nicht mit einem Mann Karten spielen, den man gestern Nacht dabei beobachtet hat, wie er es mit einem anderen Mann getrieben hat. Nicht, dass das auf mich zuträfe.“
„Kartenspielen oder es mit anderen Männern treiben?“
Brandon lächelte kalt. „Ich ziehe es vor, dir die Antwort schuldig zu bleiben.“
„Heißt das, du bist Mitglied?“
„Das heißt, du sollst dich verdammt noch mal um deinen eigenen Kram kümmern!“
Benedick bezähmte nur mühsam seinen Zorn. „Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie du dein Leben ruinierst. Ganz zu schweigen vom Ruf unserer Familie, der
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