Im Sog Des Boesen
ja? Rufen Sie deswegen doch mal die Zeitungsleute an«, empfahl Lucas. »Die meisten Auseinandersetzungen passieren nachts. Macht sicher Spaß, ganz allein im Dunkeln rumzurennen und Leute bei illegalen Machenschaften zu fotografieren.«
»Hm, dann muss ich mir das noch mal überlegen«, erwiderte Jackson.
»Meinetwegen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.« Lucas stand auf, drehte sich einmal um die eigene Achse, ließ sich wieder auf den Stuhl sinken, atmete deutlich hörbar aus und sagte: »Scheiße. Die kennen meine Meinung.«
»Ist nicht immer gut, recht zu haben, wenn die Leute ganz oben sich täuschen«, bemerkte Jackson.
»Tja, das stimmt wohl.« Lucas beugte sich ein wenig vor. »Also, haben Sie sie?«
Jackson tätschelte seine Nikon. »War ein Kinderspiel.«
»Wann kann ich die Fotos kriegen?«
»Die hab ich schon dabei«, antwortete Jackson, griff in seine Kameratasche und holte einen Stapel Bilder im Format 13 x 18 heraus. »Die Frauen, die Sie wollten, und dazu fünf aus dem Büro hier. Alle gleich unauffällig, bei der Betrachtung
sticht keine heraus. Und keine unserer Kolleginnen hat ein Konto bei der Bank, was bedeutet, dass niemand dort sie erkennen würde.«
Lucas ging die Fotos durch: zehn Frauen mit Haaren von blond bis dunkelbraun, samt und sonders frontal aufgenommen, aber nicht direkt in die Kamera schauend; dazu Seitenansichten beim Vorübergehen. »Toll«, lobte Lucas Jackson. Ich empfehle Sie für die Vier-bis-Mitternachts-Schicht beim Parteitag.«
»Sie sind ein Schatz.«
Emily Wau erwartete Lucas bereits.
»Weitere Fotos, was?«
»Ja. Verdächtige, mit versteckter Kamera aufgenommen, wie im Fernsehen. Haben Sie ein Besprechungszimmer?«
Emily Wau nickte und führte ihn hin. Lucas breitete die Bilder bunt gemischt vor ihr aus. »Gehen Sie sie einmal schnell durch, bevor Sie sich einzeln darauf konzentrieren«, empfahl Lucas ihr.
Emily Wau ließ sich Zeit: fünf Minuten für die Aufnahmen von zehn Frauen, Alyssa Austin, Helen Sobotny, Denise Robinson, Leigh Price, Martina Trenoff und die Mitarbeiterinnen vom SKA. Danach legte sie den Zeigefinger auf die Lippen wie eine Lehrerin, die ihre Schüler zum Schweigen bringen will, und sagte schließlich: »Nein.«
»Nein?«
»Ich erinnere mich an keine von ihnen«, erklärte sie.
»O Mann«, seufzte Lucas.
»Neulich habe ich etwas erlebt, das mich an den Fall erinnerte«, erzählte Emily Wau. »Ein Kunde hat mich folgendermaßen begrüßt: ›Sie haben doch mein Konto eröffnet.‹ Und mir fiel sofort sein Name ein. ›Sie sind Jim!‹, rief ich aus, und er meinte: ›Stimmt. Schön, dass Sie mich noch kennen. ‹ Das hat uns beide gefreut. Später habe ich nachgesehen,
wann die Kontoeröffnung war: Ende Dezember, kurz nach Weihnachten.«
»Sie haben also ein gutes Personengedächtnis«, bemerkte Lucas.
»Scheint so. Der Mann war jedenfalls nicht auffällig, sondern ein Durchschnittstyp.«
»Mist«, sagte Lucas.
»Tut mir leid.«
»Es ist noch nicht aller Tage Abend«, murmelte Lucas.
Doch in welche Richtung sollte er weiterforschen? Beim Betreten der Bank hätte er noch gewettet, dass Emily Wau eine der Frauen erkennen würde. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Was, wenn Emily Wau in den Fall verwickelt war? Quatsch.
Er machte sich seufzend auf den Weg zu seinem Wagen.
Es musste jemand aus dem unmittelbaren Umfeld von Frances sein.
Lucas saß im Apartment, blickte hinüber zu Heather Toms’ Wohnung und lauschte »Love Me Two Times« von den Doors. Heather war nicht zu Hause. Lucas legte die Füße auf den Tisch, schloss die Augen und ging im Geist noch einmal die Gesichter der Frauen durch. Nichts. Dann fiel ihm ein, was Alyssa Austin über psychische Störungen gesagt hatte, dass sie nur die extreme Ausprägung ganz alltäglicher Marotten seien …
Gute Theorie, dachte er. Doch Lucas hatte selbst eine, die eher soziologischer als psychologischer Natur war.
Seiner Ansicht nach nahmen manche Menschen die Welt als Uhrwerk wahr: Ereignisse führten zu weiteren Ereignissen; Menschen taten, wozu sie bestimmt waren; und am Ende kamen dabei heraus: Liebe, Hass, Krieg, Mord, Kinder, was auch immer.
Andere Menschen, unter ihnen auch Lucas, sahen, wenn sie zum Fenster hinausschauten, nur Chaos: Zufall, Dummheit, Klugheit, Habgier, Idealismus, die zu einer unberechenbaren Masse verschmolzen.
Ein nettes Vorstadtmädchen wie Heather Toms, die gerade mit einer riesigen Einkaufstüte von Neiman Marcus die Wohnung
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