Im Sommer der Sturme
können wir oben …«
Aber John fiel ihr ins Wort. »Ich habe Sie nach Ihrem Namen gefragt, Mademoiselle.«
Nun gab es keine Ausrede mehr. »Charmaine Ryan«, rief sie über die Schulter zurück. Womöglich war ihre Vermutung ja falsch, aber vorsichtshalber hastete sie trotzdem in Richtung der Küche davon.
»Nun gut, Charmaine Ryan.« Er dehnte die Silben, als ob er sie zum ersten Mal hörte. »Ich möchte, dass Sie und die Kinder mit mir frühstücken. Kommen Sie, es gibt keinen Grund, sich vor mir zu fürchten.«
Der spöttische Ton ließ sie innehalten, und die Neugier trieb sie dazu, sich umzudrehen. Mit keiner Nuance hatte seine Stimme verraten, dass er ihren Namen kannte.
John sah ihr, den Kopf zur Seite geneigt, nach. Irgendwie kam ihm diese Miss Ryan bekannt vor, obgleich er genau wusste, dass er sie nie zuvor gesehen hatte. »Charmaine Ryan«, wiederholte er. Dann stand er auf und rückte den Stuhl zurecht, auf dem vorher seine Stiefel gelegen hatten, und bedeutete ihr, sich zu ihm zu setzen. »Da Sie für die Kinder verantwortlich sind, würde ich gern mit Ihnen reden … Sie genauer kennenlernen und erfahren, welcher moralische Geist in meinem Haus herrscht.«
Sie war sprachlos. Wie sollte sie unter diesen Umständen nur jemals ihre Würde wahren? Sie dachte daran, den Raum zu verlassen. Aber das würde seine wirren Vorstellungen nur bestätigen. Und wichtiger noch: Sie konnte die Kinder nicht verlassen, weil er das unweigerlich gegen sie verwenden würde.
»Es tut mir leid, John«, sagte Paul, als er den Raum betrat, »aber Miss Ryan und die Kinder frühstücken wie immer mit mir.«
Charmaine seufzte erleichtert.
»Wie rührend!« John lachte leise und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Tisch. »Der Ritter in schimmernder Rüstung kommt seiner Lady zu Hilfe!« Die Zwillinge kicherten. »Bin ich nicht eingeladen?«
»Du darfst uns gern Gesellschaft leisten«, erklärte Yvette.
Paul brummte nur. »Kommen Sie, Charmaine. Wir können genauso gut in der Küche frühstücken.«
»Mach dir keine Umstände.« John stieß sich vom Tisch ab. »Ich weiß, wann ich nicht erwünscht bin.«
»Bleib hier, Johnny«, rief Jeannette. »Wir haben noch gar nicht mit dir geredet.«
»Ich komme später zu euch«, versprach John, und dann fragte er: »Warum ist eure Mutter eigentlich nicht da? Frühstückt sie heute in ihrem Zimmer?«
Die Mädchen erstarrten und sahen sich fassungslos an. Verwirrt schaute John zu Paul hinüber, der mühsam nach Worten rang.
»John … ich …«
In diesem Moment brach Jeannette in Tränen aus, sodass John einen Augenblick lang abgelenkt war. »Was ist denn los, Jeannette?«
»Mama ist tot, Johnny«, flüsterte Yvette leise. »Sie ist im April gestorben.«
Ein wahrer Sturm widersprüchlicher Gefühle spiegelte sich auf Johns Gesicht, und mit einem Mal empfand Charmaine großes Mitleid. Offenbar hatte er nichts davon gewusst.
»Wann … wann wolltest du mir das denn mitteilen, Paul?«, stieß John mit gepresster Stimme hervor.
»Ich wusste ja nicht, dass man es dir noch nicht …«
»Verdammt … Du hast es mir nicht gesagt!«
Stille trat ein, während John mit Riesenschritten ins Foyer stürmte. Sein Bruder rannte ihm nach. »Wohin gehst du, John?«
»Zu unserem Vater, um herauszufinden, was er sonst noch vor mir geheim hält!«
Paul packte John am Arm. »Nein, John, lass das sein! Du hast ihm beim letzten Mal schon schlimm genug zugesetzt.«
Mit verzerrtem Gesicht und einem wilden Leuchten in den Augen riss er sich los. »Ich habe ihm zugesetzt ? Ich habe ihn verletzt?« Im nächsten Moment fiel er über Paul her, krallte sich in sein Hemd und drückte ihn gegen die Wand.
Charmaine war sich nicht sicher, ob der Lärm oder ihr schriller Schrei Mrs. Henderson alarmiert hatte.
»Was geht hier vor?«, rief die Köchin empört. Ihre Stimme brachte John zur Vernunft. »Was ist nur in Sie gefahren, Master John?«
John lockerte seinen Griff, und Paul stieß ihn zurück. Die beiden starrten einander wütend an, sagten aber nichts. Dann zog Paul seine Jacke zurecht, als ob er gesiegt hätte.
Da Mrs. Henderson keine Antwort erhielt, wandte sie sich an die Gouvernante. »Miss Charmaine, was war hier los? Weshalb gehen sich die beiden an die Gurgel, obwohl Master John noch keinen Tag lang hier ist? Streiten die beiden um Sie?«
»Aber nein, Fatima«, erklärte Paul kühl, ohne seinen Bruder aus den Augen zu lassen. »Wir streiten nicht um Miss Ryan. John will nur die
Weitere Kostenlose Bücher