Im Sommer der Sturme
Wahrheit nicht hören.«
Als John das ganze Ausmaß dieser Wahrheit begriff, wurde er leichenblass. Charmaine konnte seinen Schmerz nachfühlen, als er sich abwandte und mit gesenktem Kopf das Foyer verließ.
Sie sah Paul fragend an und wartete auf ein paar erklärende Worte.
»Fatima«, bat Paul, »würden Sie sich bitte um die Kinder kümmern, während ich kurz mit Mademoiselle Charmaine rede?«
Fatima half Pierre beim Essen und tätschelte Jeannettes Schulter. Das Mädchen schluchzte noch immer, und ihre Wangen waren tränenfeucht.
Paul sah zu Yvette. »Wenn du fertig bist, gehst du mit deiner Schwester und deinem Bruder ins Kinderzimmer. Mademoiselle Ryan kommt gleich nach.«
Das Mädchen nickte schweigend, da Pauls Ton keine Widerrede duldete.
Mit gesenktem Kopf stürmte John die Treppe empor, als seine Augen plötzlich den Saum eines Kleides erfassten. Er hob den Kopf und erblickte die gefalteten Hände, ihre Brust und schließlich ihr atemberaubend schönes Gesicht, das vom Gemälde auf ihn herablächelte. Jung und unschuldig … und nun war sie plötzlich tot. Zu spät , dachte er. Ich bin zu spät gekommen.
Plötzlich hallte sein Name durchs Treppenhaus. Sein Blick löste sich von Colettes wunderschönem Gesicht, und er sah seine Tante die Treppe herunterkommen.
»Also ist es wahr«, rief sie. »Du bist wieder da.«
»So ist es«, murmelte John, »und Sie leider auch, wie ich sehe.«
Triumphierend zog Agatha die Brauen hoch. »Offenbar hast du noch nicht alle Neuigkeiten erfahren. Im Gegensatz zu Colettes betrüblichem Ableben hat dieses Haus auch eine glückliche Hochzeit erlebt. Es freut mich, dir sagen zu können, dass dein Vater und ich im Juli geheiratet haben.«
John hatte das Gefühl, als ob er sich übergeben müsse. Doch das berechnende Lächeln seiner Tante befeuerte seinen Zorn, und er trat drohend einen Schritt auf sie zu.
Agathas Lächeln vertiefte sich. »Es war unvermeidlich, John. Frederic und ich lieben uns nun schon so viele Jahre. Wenn er früher Witwer geworden wäre, wäre ich vermutlich die zweite Mrs. Duvoisin geworden, und nicht erst die dritte. Colette war viel zu jung für deinen Vater. Sie hätte ja seine Tochter sein können. Frederic braucht eine Frau, die ihn wirklich liebt, und nicht ein kleines Mädchen.«
Er hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen, wenn nicht in diesem Moment auch noch Rose am obersten Ende der Treppe im Nordflügel aufgetaucht wäre.
»John, da sind Sie ja! Ich wollte gerade herunterkommen, um Sie zu begrüßen!«
John wandte sich ab und verbarg seine wahren Gefühle. »Ich fürchte, das ist im Augenblick denkbar ungünstig, Nan. Mein Vater erwartet mich.«
»John.« Die Stimme der alten Frau klang bekümmert. »Bitte, John, halten Sie sich zurück und seien Sie nett zu ihm.«
»Ganz wie Sie meinen, Nan«, sagte er nur und drängte sich an Agatha vorbei.
Sein Kopf war ein einziger Mahlstrom aus Worten und Bildern. Was hatte George gesagt? Colette fürchtet sich vor Agatha … sie hat Angst, dass Agathas Macht über Paul zunehmen könnte … sie fürchtet um ihre Kinder … Ganz offensichtlich hatte seine Tante eine größere Beute im Auge gehabt und sich diese bereits gesichert.
Agatha sah ihm mit verzerrtem Lächeln nach. Als er verschwunden war, warf sie Rose einen vielsagenden Blick zu, bevor sie sich umwandte und John folgte.
Rose schickte nur schnell ein stilles Gebet gen Himmel. Sie hatte auf ein paar Minuten allein mit John gehofft, doch leider war sie zu spät gekommen. Bedrückt ging sie ins Speisezimmer hinunter.
Paul schloss die Tür zur Bibliothek und lehnte sich dagegen.
»Was ist dort draußen passiert?«, fragte Charmaine.
Paul seufzte abgrundtief. »Machen Sie sich keine Gedanken.«
»Ich soll mir keine Gedanken machen? Ihr Bruder war außer sich vor Wut und hat Sie angegriffen!«
»Mein Bruder ist leicht zu reizen. Er vermutet überall Kränkungen und Ärger, auch wenn nichts vorliegt, und dann gerät er in Wut, wie Sie gerade beobachten konnten.«
»Ihm Colettes Tod zu verschweigen wareine schwere Kränkung. Ich finde ihn zwar nicht gerade sympathisch, aber in diesem Fall kann ich seine Wut verstehen.«
»Er wurde schon vor Monaten über Colettes schlechten Gesundheitszustand informiert«, erklärte Paul kühl. »Ihr Tod dürfte ihn also nicht überrascht haben.«
»Und warum war er dann so wütend?«
»Wie ich bereits sagte: Er hört nicht gern die Wahrheit. Mit seinem Benehmen hat er schon mehrere
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