Im Sommer der Sturme
dass sie wegen des Gewitters in der letzten Nacht nicht schlafen konnten. Die letzte Nacht … der Sturm … die Kinder … das Gespenst … der mitternächtliche Imbiss … Paul … John!
Sie sank aufs Bett und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Dann fiel ihr Blick auf die Uhr auf ihrer Kommode: acht Uhr dreißig. Sie wollte den Tag gar nicht beginnen, um John Duvoisin nicht begegnen zu müssen. Aber natürlich war dies nicht zu vermeiden, wenn sie ihr Gesicht wahren wollte.
John Duvoisin. Sie hatte den Erben des riesigen Vermögens kennengelernt. Sie hatte zwar viel von ihm gehört, doch meistens nichts Gutes, und nun kannte sie den Grund dafür. Hatte er nicht schon bei diesen beiden Begegnungen bewiesen, dass er alle Bezeichnungen verdiente? Sie krümmte sich, als sie an die Worte dachte, die sie ihm ins Gesicht geschleudert hatte! Sie ungehobeltes, verachtenswertes Exemplar … aus welchem dreckigen Loch sind Sie denn gekrochen? … Zum Glück wohne ich hier und muss nicht wissen, welchen Namen ein so arrogantes Gesicht trägt … Vermutlich sind Sie einem stinkenden Gefängnis entronnen … Stöhnend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen.
Ein Gefangener! O Gott, wie hatte sie das nur sagen können! Wie hatte sie nur so dumm sein können! Wenn sie im Arbeitszimmer noch nicht begriffen hatte, wer er war, so hätte es ihr doch spätestens dämmern müssen, als er in ihr Schlafzimmer kam! Weder war er der Hufschmied, noch hatte er sie verfolgt! Er hatte nur einfach sein Bett gesucht. Sie errötete. Was hatte er bloß von ihr gedacht, als er sie in seinem Bett sah! Unterhalten Sie die Gäste immer auf diese Weise? Guter Gott! Sie mochte gar nicht daran denken! Ihr Kopf dröhnte, und ihre Augen brannten, weil sie nicht genug geschlafen hatte.
Trotzdem: Im Grunde gab es nichts, dessen sie sich schämen müsste. Sekunden später stöhnte sie. Natürlich gab es etwas! Schließlich hatte John sie in den Armen seines Bruders erwischt. Sie hatte zwar keinen Gast unterhalten , aber an dem Rendezvous mit Paul war sie sehr wohl schuld. Und um die Sache noch schlimmer zu machen: Keiner von ihnen war korrekt gekleidet gewesen, sodass er natürlich die schlimmsten Schlussfolgerungen ziehen musste. Charmaine seufzte. Sie konnte nicht einmal die Erinnerung an ihren ersten Kuss genießen, weil dieser grässliche Mensch alles verdorben hatte.
John Duvoisin. Was sollte sie zu ihm sagen? Auf jeden Fall wollte sie ihm mit erhobenem Kopf gegenübertreten.
Im nächsten Moment wurde die Tür zum Kinderzimmer aufgerissen, und gleich darauf liefen die drei, ohne anzuklopfen, zu Charmaine. Sie waren bereits angezogen und hüpften übermütig auf dem Bett herum.
»Sind Sie jetzt erst aufgewacht?«, fragte Yvette ungläubig. »Es ist schon spät! Ziehen Sie sich endlich an, Mademoiselle Charmaine.«
»Was ist los? Warum habt Ihr es denn so eilig?«
»Nana Rose sagt, dass wir nicht ohne Sie zum Frühstück gehen dürfen. Wir haben aber Hunger.«
Es klopfte, und Charmaine ließ Mrs. Faraday mit einem Stapel Wäsche herein.
»Schnell, Mademoiselle, sonst kommen wir zu spät«, rief Jeannette, und Pierre stimmte ein. »Schnell, Mainie!«
Verwirrt sah Charmaine von einem zum anderen. »Wofür zu spät?«
»Master John ist heute Nacht zurückgekommen«, erklärte Mrs. Faraday, »und die Kinder wollen ihn unbedingt sehen. Er frühstückt gerade, während wir hier reden.«
Charmaine spielte die Unwissende. »Master John?«
»Ihr großer Bruder. Die Mädchen hoffen, dass er sie wieder mit Geschenken überhäuft wie beim letzten Mal, als er überraschend aus Virginia zu Besuch kam. Master Paul war offenbar noch wach, als er ankam, und hat Rose soeben Bescheid gesagt.«
Charmaine fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Die Haushälterin bemerkte es zwar, redete aber weiter, als ob nichts gewesen wäre. »Sie ist die Einzige im Haus, die sich wirklich über seine Heimkehr freut. Obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, warum. Sie ist genauso aufgeregt wie die Kinder und will sich noch schön machen, bevor sie herunterkommt.«
»Wir freuen uns auch, dass John wieder da ist«, rief Yvette dazwischen. »Sicher hat er uns auch wieder Geschenke mitgebracht! Vielleicht sogar größere als das Piano.« Sie reckte sich auf die Zehenspitzen und hob ihre Arme so hoch, wie sie konnte, um die Größe des Wunders zu beschreiben, das sie von ihrem geliebten Bruder erwartete.
»Pierre will ihn auch sehen«, bekräftigte
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