Im Sommer der Sturme
Mitglieder dieser Familie verletzt. Nicht zuletzt Colette. Obwohl sie ihm gegenüber immer gut und freundlich war, hat sie unter ihm gelitten.«
Ungläubig starrte Charmaine ihn an. Sie schauderte bei der Vorstellung, dass sich hier schon öfter solche Szenen abgespielt hatten. Hatte er etwa, was Gott verhüten möge, auch Colette angegriffen? Sie wagte nicht zu fragen. »Aber warum nur?«
»Seit ich mich erinnern kann, sieht John die Dinge so, wie es ihm passt, und eckt damit regelmäßig bei unserem Vater an. Vater streitet oft und meistens auch aus gutem Grund mit ihm. Entsprechend wütend macht es ihn, dass mein Vater noch immer die Fäden in der Hand hält. Das reizt seinen Zorn ständig aufs Neue.«
Charmaine war sprachlos, so sehr ähnelte das Bild, das Paul da zeichnete, ihrem früheren Leben. Mit einem Mal spürte sie wieder die alte Angst, die sie immer in Gegenwart ihres Vaters empfunden hatte.
»Sie haben schon allerlei Gerüchte über meinen Bruder gehört, Charmaine, und nun haben Sie ihn selbst erlebt. Trotzdem sollten Sie sich keine Sorgen machen und darauf vertrauen, dass ich Sie beschütze.«
»Ich hoffe, dass ich das kann.«
»Sie müssen, Charmaine. Es kommen harte Zeiten auf uns zu, dafür wird John schon sorgen. Darin ist er Meister.«
»Master John?«
Mit sorgenvoller Miene vertrat Travis Thornfield John den Weg.
»Lassen Sie ihn herein, Travis.«
Der Mann gehorchte, woraufhin John in das hell erleuchtete Ankleidezimmer stürmte.
Frederic empfing seinen Sohn im Stehen und wirkte so ruhig wie immer, obwohl sein Puls raste.
»Lassen Sie uns allein, Travis«, forderte John, den die lässige Haltung seines Vaters und seine wiedergewonnene Kraft sichtlich ärgerten.
Der Diener sah zu Frederic Duvoisin hinüber. »Sir?«
Doch der nickte nur, und Travis verließ den Raum.
Der Tag war noch jung, als Charmaine ihr Frühstück auf dem Tablett nach oben trug. Wegen der kurzen Nacht waren ihre Schritte schwerer als sonst, und die Aussicht auf einen anstrengenden Tag mit drei lebhaften Kindern wirkte nicht gerade belebend.
Doch im Kinderzimmer war niemand. Offensichtlich hatten die Kinder Pauls Anordnungen nicht befolgt. Verärgert biss Charmaine die Zähne zusammen. Ihr Morgen war gründlich verdorben. Ihr Frühstück musste noch einmal warten, weil sie die Kinder finden musste, bevor Agatha dies tat. Ihr Kopf schmerzte, und ihre Augen brannten. Und daran war nur dieser verdammte John Duvoisin schuld! Aber alles Schimpfen brachte die Kinder nicht zurück.
Sie versuchte ihr Glück zuerst im Nordflügel, weil die Kinder ja vielleicht zu Nana Rose gelaufen waren. Geräusche in einem der leerstehenden Räume bestärkten sie in ihrem Verdacht. Sie blieb stehen und lauschte, doch sie hörte keine Stimmen. Aber ein Rascheln. Sie klopfte. Das Rascheln wurde lauter. Dann war alles still. Sie klopfte noch einmal und rief nach den Kindern. »Yvette, Jeannette.« Keine Antwort. Nur das Geräusch von schnellen Schritten. Wieder rief sie: »Yvette, Jeannette, seid ihr da drin?« Nichts. Keine Antwort. Einen Moment überlegte Charmaine, was sie tun sollte. Womöglich waren die Kinder gar nicht in dem Zimmer. Jeannette hätte niemals den Mund halten können. Und jeder andere hätte erst recht etwas gesagt. Beunruhigt öffnete sie die Tür.
Ein Windstoß bauschte ihre Röcke und wirbelte die Papierbogen auf dem Schreibtisch auf. Einige Blätter segelten zu Boden. Rasch schloss Charmaine die Türen, um den Wind auszusperren, und dann machte sie sich ans Aufräumen. Sie sammelte die leeren Bögen ein und legte sie auf ihren Platz zurück. Doch plötzlich hielt sie inne und richtete sich auf. Sie hielt einen Brief in der Hand – ein etwas zerknittertes Exemplar. Auf den ersten Blick erkannte Charmaine die Handschrift, und ihr Herz pochte schneller. Es war Colettes Handschrift. Sie schnappte nach Luft, als ihr Blick auf die erste Seite fiel.
Liebster John,
ich habe keine Vorstellung, wie es dir augenblicklich geht, und ich möchte dir auf gar keinen Fall noch größeren Schmerz zufügen …
Wutschnaubend stand John seinem Vater gegenüber.
»Warum setzt du dich denn nicht?«, fragte Frederic seinen Sohn.
»Ich bleibe nicht lange.«
Frederic stieß den Atem aus. »Willkommen zu Hause.«
Doch John schnaubte nur, weil ihn die falsche Höflichkeit anwiderte. »Wie ich sehe, hängt Colettes Bild noch an seinem Platz, Vater. Wann kommt denn der Maler und porträtiert deine dritte Frau?«
Frederic begegnete
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