Im Sommer der Sturme
Zitternd und verwirrt blieb Charmaine stehen, wo sie war, während sich augenblicklich lustvolle Sehnsucht und gleichzeitig ein erstes Gefühl der Enttäuschung meldeten.
»Es tut mir leid, Charmaine«, murmelte Paul fast unhörbar. Was ist nur mit mir los? Ich hätte sie hier, mitten im Spielzimmer der Kinder, ohne Angst vor Entdeckung besitzen können. Verdammt! Sie ist so verführerisch!
»Ist irgendetwas passiert?«, fragte sie mit leiser, fast verschämter Stimme.
Er holte tief Luft und drängte seine Gelüste zurück, bevor er sich wieder zu ihr umdrehte. »Nichts ist passiert«, erklärte er mit einem zaghaften Lächeln. »Überhaupt nichts.«
»Und warum entschuldigen Sie sich dann?«
»Weil dies weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort für Küsse wie diese ist. Aber Sie verleiten mich immer zu wilden Dingen, Charmaine …«
»Zu wilden Dingen?«
»Dass ich jede Nacht von Ihnen träume, zum Beispiel.«
Die poetischen Worte und der weiche Klang seiner Stimme entzückten sie und ließen ihr Herz schneller schlagen. »Es tut mir leid, wenn ich Sie so sehr quäle.«
»Quälen Sie mich nur, Charmaine. Das ist auf jeden Fall weniger schlimm, als wenn Sie mich verließen.«
»Im Ernst?«
»Ganz im Ernst«, sagte er. »Aber jetzt kommen Sie, Charmaine, das Dinner wartet.«
Das Dinner … Sie konnte es kaum glauben, aber ihre Angst war wie weggeblasen. Pauls wachsende Zuneigung hatte den tiefen Hass seines Bruders verdrängt. Mit diesem Mann an ihrer Seite konnte sie es mit allem aufnehmen, was John ihr zumutete. Heute Abend würde sie als Siegerin die Tafel verlassen.
Paul bemerkte ihre Ruhe und Gelassenheit. »Sie scheinen sich nicht vor dem Abend zu fürchten.«
»Mit Ihnen an meiner Seite käme ich nie auf solche Gedanken.«
»Sie überraschen mich immer wieder, Charmaine Ryan.« Er lachte und dachte an die Zeit zurück, als sie seine Gegenwart gemieden hatte. »Aber Sie haben recht. Ich stehe an Ihrer Seite und werde nicht zulassen, dass John Sie verletzt. Denken Sie immer daran.«
»Das werde ich«, murmelte sie leise. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte sie davon geträumt, all ihre Sorgen auf Pauls Schultern zu laden. Konnten solche Träume wirklich wahr werden? Für den Anfang war es allerdings am sichersten, fest auf dem Boden verhaftet zu bleiben, dachte sie und schob diese Gedanken ganz weit von sich.
Paul ergriff ihre Hand und wollte sie zu Tür führen, doch sie hielt ihn zurück. »Einen Augenblick, ich muss noch schnell mein Haar richten.«
»Nein«, widersprach er und hielt sie auf. »Das kommt gar nicht infrage«, fügte er dann sanfter hinzu. »Sie sehen wunderschön aus.«
Sie freute sich über das Kompliment. Außerdem hielten die Kämme noch immer die seitlichen Strähnen zurück. Ihr würde zwar unangenehm heiß werden, aber für Paul nahm sie dieses Opfer gerne auf sich. Nach einem letzten Blick in den Spiegel wandten sie sich zum Gehen.
Trotz aller Tapferkeit bekam sie feuchte Hände, als sie das Esszimmer betraten. Sie waren die Letzten, die zu Tisch kamen. Rose saß zwischen den Kindern und band ihnen die Servietten um. Ganz gegen ihren Schwur wanderte Charmaines Blick unwillkürlich zum Ende der Tafel, wo John am Samstagmorgen auf Pauls Platz gesessen hatte. Sie wusste, dass er dort saß, also warum sah sie überhaupt hin? Erleichtert stellte sie fest, dass er ihr Eintreffen gar nicht bemerkt hatte, weil er in eine Unterhaltung mit George vertieft war.
George bemerkte sie als Erster, und seine Augen leuchteten auf. »Guten Abend, Charmaine.«
Sie lächelte ihm zu und sah erneut zu John. Jetzt hatte auch er sie bemerkt. Obgleich sein Gesicht glatt rasiert und er anständig gekleidet war, hatte der Alkohol seine Spuren hinterlassen. Er schwankte leicht, und seine Augen waren glasig.
Paul trat an den Tisch und zog ihr den Stuhl heraus. Sie saß zwar nahe bei John, aber nicht direkt zu seiner Linken. Sie dankte Paul mit einem Nicken und setzte sich so elegant, wie ihr das möglich war.
Paul griff nach dem nächsten Stuhl, und John schien sich zu amüsieren, dass sein Bruder sozusagen den Puffer zwischen ihnen beiden spielen wollte. Aber der Stuhl rührte sich nicht von der Stelle, als ob er am Boden festgeklebt sei.
»Willst du dich nicht endlich setzen?«, fragte John. »Oder müssen wir ohne dich anfangen? Wenn ich so sagen darf, haben wir schon lange genug auf dich und Miss Ryan warten müssen. Was euch wohl aufgehalten hat?«
Verärgert riss
Weitere Kostenlose Bücher