Im Sommer der Sturme
Verzweiflung. John Duvoisin wollte ebenso wenig über Charmaines Unterricht erfah ren, wie er bereit war, dem Alkohol zu entsagen. Es war Zeit, dass jemand sich einmischte. »Sie sollten essen, bevor alles kalt wird, Master John«, schimpfte sie.
Zu Charmaines Verwunderung lehnte John sich zurück und sah kurz zu Yvette hinüber, die offenbar ihren Spaß hatte, wenn er geschimpft wurde, dann ergriff er gehorsam die Gabel. Dankbar wandte sich nun auch Charmaine wieder ihrem Teller zu.
George konnte kaum ertragen, wie John die Gouvernante einzuschüchtern versuchte. Er erinnerte sich an die Tränen, die sie am Samstag an seiner Schulter vergossen hatte, und konnte ihre Not nachfühlen. Im Lauf der Zeit hatte er viele unglückliche Seelen untergehen sehen, sobald sie in Johns Fadenkreuz gerieten. Aber diese Opfer hatten ihr Schicksal verdient. Doch was hatte Charmaine, so süß, wie sie war, getan, um Johns Zorn auf sich zu ziehen? »Ich habe gestern übrigens Gummy Hoffstreicher in der Stadt getroffen, John«, begann er und lächelte schief. »Er wollte wissen, wie es dir geht.«
»Und hast du ihm gesagt, dass es mir in letzter Zeit ziemlich bescheiden geht?«, erwiderte John schroff. »Das hat ihn sicher gefreut.«
»Nach dem, was du ihm angetan hast«, erwiderte George, »würde mich das nicht wundern.«
»Was hat Johnny gemacht?«, fragte Yvette.
Georges Fröhlichkeit wirkte ansteckend. »Als wir noch kleine Jungen waren, vielleicht ein bisschen älter als ihr beide, sind John, Paul und ich oft zum Fischen auf den Kai gegangen. Fatima hat jedem von uns ein Sandwich zum Lunch eingepackt, weil wir den ganzen Tag über fort waren. Gummy war immer dort, wo wir auch waren.«
»Gummy?«, fragte Jeannette. »Warum habt ihr ihn so genannt?«
»John hat den Namen erfunden. Richtig hieß Gummy Gunther, aber wir haben ihn umgetauft, weil ihm mehrere Vorderzähne fehlten.«
Die Zwillinge kicherten, was Charmaine ziemlich grausam fand. Sie stellte fest, dass John zwar zuhörte, aber gleichzeitig aß und in Gedanken weit weg zu sein schien.
»Gummy hat sich immerfort im Hafen herumgetrieben«, erklärte George, »und war ständig auf der Suche nach Haken und Essen. Er war nicht arm, aber zu faul, sich selbst etwas mitzubringen. Wenn wir ihm nichts gegeben haben, hat er uns beklaut, sobald wir einmal nicht aufgepasst haben. Später haben wir ihn dann kauen sehen. Er hat uns jeden Tag ein Sandwich geklaut, bis John eines Tages wütend genug war, um etwas zu unternehmen.«
Felicia brachte einen Krug Wasser herein. Aus dem Augenwinkel sah Charmaine, wie das Mädchen zum Kopf der Tafel ging und sich über den Tisch beugte, um Johns Glas zu füllen. Ihre Brüste pressten sich gegen ihre enge Uniform, deren oberste Knöpfe geöffnet waren, damit es auch etwas zu bewundern gab. Was für ein hübsches Paar , dachte Charmaine. Sie verdienen einander!
George kicherte. »Am nächsten Tag hat John einen Fisch aufgeschnitten und die Innereien herausgekratzt. Als Krönung hat er ihm noch die Augen ausgestochen. Dann nahm er ein Sandwich aus unserer Tasche und bestrich es mit den Augen und den Innereien.«
Charmaines Magen revoltierte. George war weniger empfindlich. Vor Lachen liefen ihm die Tränen über die Wangen. »Ich werde nie Gummys Gesicht vergessen, als er in dieses Sandwich gebissen hat! Er hat es so schnell ausgespuckt, dass wir schon Angst hatten, dass noch sein ganzes Frühstück nachkommt!« Inzwischen hatte er mit seinem Gelächter Paul und John angesteckt, und sogar Rose und die Kinder mussten lachen.
»Erinnert ihr euch noch an die Augen, die uns vom Kai aus angestarrt haben?«, fügte Paul hinzu, woraufhin George noch lauter aufjaulte.
»Jedenfalls war es das Letzte, was Gummy jemals gestohlen hat – zumindest von John!«
Charmaine fand die Geschichte dermaßen abstoßend, dass sie Paul nur ungläubig ansehen konnte. Offenbar hatte er sogar noch mehr Spaß als George.
»Ich kann solche Barbarei nicht komisch finden«, bemerkte die Herrin des Hauses spitz.
Ohne zu überlegen, sah Charmaine zu John hinüber. Sicher wusste er auch darauf eine Antwort. Doch als er ihren Blick bemerkte, richtete er das Wort an sie. »Glauben Sie jetzt, dass meine Tante und ich uns in keinster Weise ähnlich sind, Miss Ryan?«
»Genau das habe ich schon heute Morgen gesagt«, fügte Agatha hinzu.
John hob sein Glas. »Darauf trinken wir, Auntie. Der erste Punkt, in dem wir einer Meinung sind!« Er nahm einen großen
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