Im Sommer der Sturme
aber er stand eindeutig in zweiter Reihe. Und wenn er sich an seinen Vater wandte? Frederic Duvoisin würde ihr respektloses Benehmen niemals gutheißen, ganz gleich, was sie auch sagte. So gesehen lag ihre Zukunft also in John Duvoisins Hand. Seit diesem verhängnisvollen Zwischenfall am Samstagmorgen hielt er alle Karten in der Hand. Und um die Sache noch schlimmer zu machen, hatte sie nun auch noch weiteres Öl in die Flammen gegossen. In diesem Punkt musste sie ihm recht geben – sie war tatsächlich dumm!
Je weiter der Vormittag voranschritt, desto unruhiger wurden die Kinder. Charmaine hatte ihnen mehrmals verwehrt, das Zimmer zu verlassen, doch als es Mittag wurde, konnte sie die Kinder nicht länger einsperren. Als sie sich dem Esszimmer näherten, überkam sie Panik. Was sollte sie tun, wenn John am Tisch saß? Zum Glück war er nicht da – aber offenbar sein Geist, denn Charmaine zuckte schon beim leisesten Geräusch zusammen.
»Wo ist Johnny?«, fragte Yvette.
»Ich weiß es nicht.« Halblaut fügte sie hinzu: »Woher soll ich das wissen?«
Yvette neigte den Kopf zur Seite. »Sie mögen ihn nicht besonders, nicht wahr, Mademoiselle?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Ist ja auch egal. Früher oder später werden Sie Ihre Meinung schon ändern.«
Charmaine wäre beinahe an ihrem Bissen erstickt. So sehr hatte sich die liebe Yvette noch nie geirrt! Eher würde sie ihren Vater als Mann Gottes bezeichnen!
Nach dem Lunch weigerten sich die Mädchen, wieder ins Kinderzimmer zu gehen. »Ich habe keine Lust, immer mit denselben Sachen zu spielen oder wieder Märchenbücher vorzulesen«, maulte Yvette. »Wir haben jetzt tagelang nichts anderes gemacht.«
Womit sie recht hatte. Sie konnten sich nicht ewig verstecken. »Wollen wir vielleicht ein bisschen auf dem Piano spielen?«, schlug Charmaine vor.
Dagegen protestierte Yvette. »Johnny könnte uns hören, und ich will ihn doch überraschen!«
Charmaine seufzte, aber Jeannette hatte die rettende Idee. »Wir verderben die Überraschung ja nicht, wenn Sie spielen, nicht wahr, Mademoiselle?«
Ein paar Minuten später waren alle um das Instrument versammelt. Charmaine spielte die üblichen kleinen Lieder und sang mit den Kindern im Chor. Selbst Pierre fiel immer wieder mit ein, bevor er in haltloses Kichern ausbrach. Die Sorgen waren schnell vergessen, und es wurde ein fröhlicher Nachmittag.
John starrte zu den Spinnweben an der Decke empor, als die Töne eines Kinderlieds bis in sein Schlafzimmer drangen. »Verdammt guter Whisky«, murmelte er und schwang die Beine über den Bettrand. Er war noch längst nicht betrunken genug. Er entkorkte die Flasche, die er aus dem Speisezimmer mitgenommen hatte, und goss sein Glas randvoll. Beim ersten Schluck drangen wieder Töne an sein Ohr. Sein Blick wanderte zu den französischen Türen, wo sich die Vorhänge leicht im Wind bauschten. Diese Töne kamen eindeutig nicht aus der Flasche und entstammten auch nicht seiner Einbildung. Die Melodie wirkte seltsam belebend, sodass er vom Bett aufstand und auf den Balkon hinausging.
Er musste die Lider zusammenkneifen, weil er nicht auf das grelle Licht vorbereitet war. Er tastete nach dem Geländer und klammerte sich daran fest, bis sich die Welt nicht mehr drehte und der Schmerz in seinem Kopf nachließ. Hier draußen waren die Töne deutlicher zu hören, und er stellte sich vor, wie die Kinder sangen. Plötzlich erhob sich ein heller Sopran über ihre Stimmen, der die Melodie trug. Wie hübsch , dachte er bitter, die Gouvernante spielt auch Klavier . Er starrte auf das Glas in seiner Hand. Dann schleuderte er es im hohen Bogen über das Geländer – und genoss das Geräusch, als es auf dem Pflaster der Zufahrt zerschellte.
»Mann, sind wir heute aber fröhlich!«
John beugte sich weit über das Geländer, als George Richards zu ihm emporsah und grinste.
»Du hättest mich fast an einer Stelle getroffen, die ich leider nicht näher beschreiben kann.«
»Womöglich hätte dir das sogar gutgetan, Georgie.« John lachte. »Was hast du denn den lieben Vormittag lang getrieben?«
»Du solltest lieber fragen, was ich nicht getrieben habe. Paul hat mich ganz schön beschäftigt.«
»Armer George«, höhnte John. »Jetzt muss er für seine lange Reise büßen. Hat Paul die ganze Arbeit für dich aufgehoben?«
»Ganz so schlimm war es nicht. Wir haben den Vormittag über alle aktuellen Arbeiten und die Änderungen, die Paul vorgenommen hat, besprochen.«
»Welche
Weitere Kostenlose Bücher