Im Sommer der Sturme
den Mädchen haben, wenn er zu Hause bleibt« –, machten sich Charmaine und die Mädchen, mit einem schweren Korb beladen, auf den Weg zu den südlich des Hauses gelegenen Stränden. Sie sammelten Muscheln, wateten bis zu den Knien im warmen Wasser und tobten herum, lachten und erzählten sich allerlei Geschichten. Natürlich wollten die Mädchen auch alles über Charmaines Vergangenheit hören, und sie gehorchte ihrem Wunsch, ohne auf die betrüblichen Einzelheiten einzugehen. »Arm zu sein«, wie sie es nannten, fanden sie jedenfalls sehr viel spannender, als »reich zu sein«. Charmaine schnaubte nur verächtlich.
Am Sonntag besuchten alle die Messe in der kleinen Kapelle. Nur Frederic Duvoisin fehlte wie gewöhnlich, und Charmaine fragte sich, ob sie den Patriarchen der Familie wohl jemals zu Gesicht bekommen würde. Wie am Sonntag zuvor war Father Benitos langatmige Predigt auch diesmal mit drohender Verdammnis überfrachtet. Unwillkürlich dachte Charmaine an Father Michael Andrews und seine Predigten, die die Botschaft der Liebe und Vergebung verbreiteten und den Menschen Erfüllung schenkten. Mit welcher Verehrung hatte ihre Mutter stets von diesem Priester gesprochen. Father Benito sollte sich ein Beispiel an seinem Amtsbruder nehmen.
Charmaine war jedenfalls froh, als die Messe endlich vorbei war. Die Mädchen hatten in einem fort gezap pelt, Pierre war unruhig gewesen, und Paul hatte sie ständig beobachtet. Ob er es ihr anlastete, wenn die Kinder nicht stillsaßen? Colette zog sich gleich nach der Messe in ihre Räume zurück, sodass die Sorge um die Kinder Rose und Charmaine überlassen blieb. Nach dem Mittagessen brachte Charmaine den kleinen Pierre für seinen Mittagsschlaf nach oben. Die Mädchen wollten am Piano üben, und Rose leistete ihnen dabei Gesellschaft.
Als der Junge binnen Sekunden eingeschlafen war, schlich Charmaine auf Zehenspitzen in ihr Zimmer, um sich ein Buch zu holen. Als sie zurückkam, erschrak sie zutiefst: Pierres Bettchen war leer. Wo steckte er nur? In ihrer Panik rannte Charmaine zur Treppe. Nichts. Aber dann vernahm sie ein leises Kichern aus den Räumen hinter ihr. Erleichterung überkam sie. Die Tür war nur an gelehnt. Charmaine stieß sie auf – und erblickte den Vermissten, der bis zu den Hüften in Pauls Reitstiefeln steckte.
»Pierre«, schimpfte sie, während ihr Blick durch das Zimmer glitt. »Komm sofort her!« Aber Pierre jauchzte laut und versuchte, in den Stiefeln zu laufen. »Komm schnell her, Pierre, du hast hier nichts verloren. Bitte!«
Doch der Kleine fiel um und kicherte nur noch mehr. Strampelnd befreite er seine Beinchen und lief in das Schlafzimmer seines großen Bruders. Die Jagd war eröffnet. Charmaine hatte keine Wahl. Sie rannte durch den Ankleideraum und blieb schüchtern an der Tür zum Schlafraum stehen. Zum Glück war der Raum leer – bis auf das große Bett, unter dem Pierre soeben verschwand.
»Warte nur, wenn ich dich erwische!« Aufstöhnend machte sie sich an die Verfolgung. Je eher sie den Kleinen einfing, desto besser. Als sie flach auf dem Boden lag und ihr Opfer gerade an einem Beinchen hervorziehen wollte, räusperte sich jemand hinter ihr. Sie schrak zusammen und hätte am liebsten nicht hingesehen. Aber sie musste. Sie ließ das Beinchen los, dann stand sie auf und sah Paul, ihre Wangen flammend rot, an.
»Haben Sie etwas verloren, Miss Ryan?« Mit gekreuzten Armen und Beinen lehnte er am Türrahmen und grinste diabolisch. »Oder sind Sie vielleicht aus anderen Gründen hier?«
»Nein, Sir … ich meine … ja, Sir«, stammelte sie und fühlte sich unendlich gedemütigt. »Ich meine, ich habe etwas verloren, Sir.«
»Ach ja?«
Zum Glück kroch Pierre in diesem Moment auf der anderen Seite des Betts hervor und rannte auf direktem Weg in die Arme seines großen Bruders. Paul hob ihn schwungvoll hoch und sah Charmaine mit gerunzelten Brauen an. »Demnach haben Sie also den kleinen Pierre verloren? Wirklich erstaunlich. Rose kümmert sich um die Mädchen, und Sie hatten nur ihn zu hüten. Ist es denn wirklich so schwierig, einen kleinen Racker im Zaum zu halten?«
»Ich dachte, er schläft«, erwiderte Charmaine sichtlich beleidigt. »Ich habe ihn nur einen Augenblick allein …«
»Sie müssen mir das nicht erklären, Miss Ryan. Wie ich schon in unserem ersten Gespräch sagte, kann es durchaus anstrengend sein, hinter einem kleinen Kind herzurennen. Womöglich ist es ja doch zu viel für Sie.«
»Sie irren sich, Sir«,
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