Im Sommer der Sturme
»Wollen wir uns die Hand darauf geben?«
Charmaine nickte. Sie griff nach Yvettes ausgestreckter Hand, doch plötzlich wurde diese zurückgezogen. »Eines noch«, sagte Yvette und versteckte ihre Hand auf dem Rücken. »Sie sollten Mama und Papa nichts davon sagen. Sonst darf ich den Brief vielleicht gar nicht schicken.«
Charmaine war sprachlos. Sicher würden die Eltern ihrem Kind nicht verbieten, einen ganz normalen Brief an seinen großen Bruder zu schreiben. »Warum sollten sie das tun?«
»Weil sie auf Johnny wütend sind. Das ist der echte Grund, warum ich ihm keinen Brief schicken kann. Ich sollte Ihnen das auch nicht sagen, aber Johnny ist an Papas Anfall schuld. Das ist ein großes Familiengeheimnis! Doch Sie hätten es ja sowieso erfahren. Jeder im Haus weiß, was passiert ist. Aber Johnny hat das nicht gewollt. Das weiß ich genau. Zum Glück ist Papa nicht gestorben.« Das Mädchen seufzte. »Inzwischen darf ich nicht einmal mehr seinen Namen aussprechen. Sie werden nie erlauben, dass ich ihm einen Brief schreibe.«
»Ich werde mit deiner Mutter darüber reden«, sagte Charmaine in sanftem Ton.
»Nein!«, rief das Mädchen. »Kein Geheimnis, keine Abmachung! Wenn Sie meiner Mutter von dem Brief erzählen, wird er die Insel nie verlassen.«
Charmaine runzelte die Stirn. Sie mochte es nicht, wenn man sie unter Druck setzte. Und hinter Colettes Rücken wollte sie schon gar nichts tun. »Ich muss darüber nachdenken.«
»Vergessen Sie es«, sagte Yvette enttäuscht. »Ich wusste ja, dass Ihnen der Mut fehlt.«
»Aber Yvette.« Charmaine hatte das Gefühl, dass sie sich das Mädchen zum Feind gemacht hatte. »Wenn dir der Brief so viel bedeutet, verspreche ich, dass wir ihn deinem Bruder irgendwie zukommen lassen.«
Es gab eine lange Pause. »Sind Sie sicher? Sagen Sie das nicht nur so?«
»Ich bin sicher, und ich verspreche es. Aber jetzt komm, ich bringe dich ins Kinderzimmer zurück, bevor Nana Rose oder deine Mutter nach dir suchen.«
Listig drehte sich das Mädchen zum Klavier um. »Können Sie darauf spielen?«
»Aber ja.«
»Wollen Sie mich unterrichten?«
»Vermutlich könnte ich das. Allerdings wärst du meine erste Schülerin.«
»Das ist mir egal. Ich würde es gern lernen. Johnny kann sehr gut spielen.« Dabei klimperte sie auf einer Taste herum. »Er wäre bestimmt überrascht, wenn er nach Hause kommt und mich spielen hört. Ich würde ihn wirklich gern überraschen.«
Charmaine lächelte auf das Mädchen hinunter, das seinen Bruder so sehr verehrte. »Nun gut, Mademoiselle Duvoisin, wenn du bereit bist, eine Stunde pro Tag zu üben, kannst du an Weihnachten schon ein paar einfache Melodien spielen. Wollen wir gleich anfangen?«
Yvette nickte begeistert, und sie setzten sich ans Piano. »Schau her, dies ist das mittlere C.«
So fand Colette die beiden vor, als sie den Wohnraum betrat. Sie lächelte zufrieden.
Als Yvette von der ersten Lektion genug hatte, brachte Charmaine sie zurück ins Kinderzimmer und bestand dann auf einer Führung durch das Haus. Sie staunte nicht schlecht über das, was die Mädchen ihr zeigten. Besonders über das Wasserklo am oberen Ende der Treppe zum Südflügel und das eine Etage tiefer. Sowohl die Toiletten als auch die Waschbecken waren an ein Wassersystem angeschlossen, das der Großvater der Mädchen beim Bau des Herrenhauses entworfen hatte. Das Regenwasser wurde vom Dach in eine Zisterne über der Toilette abgeleitet. Als Yvette einen Pumpenschwengel betätigte und daraufhin ein Schwall Wasser durchs Klo rauschte, sprang Charmaine erschrocken einen Schritt zurück. Die Mädchen lachten begeistert. »Haben Sie noch nie ein Spülklo gesehen?« Ein solches jedenfalls nicht. Nicht einmal die Harringtons besaßen ein solch modernes Badezimmer.
Im Erdgeschoss zeigten die Zwillinge Charmaine den riesigen Ball- und Bankettsaal, der den gesamten Südflügel einnahm. Ihre Schritte hallten durch den Raum, als sie ihn auf dem Weg zur kleinen Kapelle durchquerten. Das kleine Gebäude aus Stein wurde erst vor acht Jahren errichtet und scherte als einziger Teil aus der strengen Symmetrie des Herrenhauses aus.
Als Nächstes führten die Mädchen ihre Gouvernante in den Garten, der den Hof zwischen Nord- und Südflügel ausfüllte. Frederics Vater hatte einen Gärtner beauftragt und diesen geschlossenen Raum mit Büschen und exotischen Blüten bepflanzen lassen. Heute kümmerten sich Travis und Gladys darum. Unter überhängenden Zwei gen, besetzt mit
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