Im Sommer der Sturme
nicht entgangen, und als sie spät am Abend in ihr Zimmer ging, fingen Felicia und Anna sie ab. »Sie nennen ihn schon Paul, was?«, zischte Felicia. »Aber in sein Bett plumpsen Sie nicht sofort, oder?«
Die gewöhnliche Ausdrucksweise stieß Charmaine ab. »Paul respektiert mit Sicherheit keine, die sich ihm an den Hals wirft. Außerdem weiß ich, dass Miss Colette solches Benehmen nicht duldet.«
Felicias Augen funkelten. » Miss Colette ist mir egal. Und woher wollen Sie wissen, was Paul gefällt und was nicht? Lassen Sie ihn in Ruhe, klar? Bleiben Sie ihm vom Leib.«
»Lassen Sie mich durch«, entgegnete Charmaine mit einer gewissen Herablassung.
Überrascht suchte die üppige Schönheit bei der etwas begriffsstutzigen Anna Smith nach Verstärkung, doch Charmaine nutzte die Gunst des Augenblicks, huschte in ihr Zimmer und warf Felicia die Tür vor der Nase zu. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich dagegen und wünschte, dass sie nicht auf demselben Flur mit Felicia Flemmings wohnen müsste. Mit dieser Konfrontation war die Sache sicher noch nicht ausgestanden. Wütend packte Charmaine ihr Buch und beschloss zu lesen, bis ihr die Augen zufielen.
Dienstag, 27. September 1836
Nach einem regnerischen Montag versprach der Dienstag sonnig zu werden. Auf Colettes Wunsch hin fuhr Charmaine am Vormittag in die Stadt. Am nächsten Tag hatten die Zwillinge Geburtstag, und Colette brauchte jemanden, am liebsten eine Frau, die ihre Besorgungen im Warenhaus erledigte. Sie bestellte den Wagen, und Charmaine ließ den Kutscher zuerst bei den Brownings halten und bat Gwendolyn, sie zu begleiten. Voller Freude holten sie die Geschenke ab, die Colette schon vor Monaten für ihre Töchter bestellt hatte. Besonders hübsch waren die beiden Miniaturpferdchen aus Glas für ihre Sammlung. »Die Mädchen lieben den Stall über alles«, hatte Colette gesagt. »Und jetzt haben sie sogar eigene Pferde.«
Kurz vor Mittag verabschiedete sich Charmaine von ihrer Freundin und ließ sich zum Herrenhaus zurückfahren. Dort lief sie rasch nach oben, legte die Pakete auf ihr Bett und kam pünktlich zum Essen an den Tisch.
»Wo sind Sie gewesen?«, wollte Yvette wissen.
»Das wirst du morgen schon sehen.« Mehr ließ sich Charmaine nicht entlocken.
Später am Abend, als alle längst im Bett lagen, packte Charmaine die Geschenke ein und gab sich besondere Mühe mit den Schleifen. Colette hatte vorgeschlagen, die Päckchen im Schrank hinter den Kleidern der Mädchen zu verstecken. Am besten erledigte sie das, solange die Kinder tief und fest schliefen. Gesagt, getan – und keiner hatte sich auch nur gerührt. Auf dem Weg in die Bibliothek lief sie auf der Treppe Jane Faraday in die Arme.
»Brauchen Sie noch etwas, Miss Ryan?«, herrschte die Haushälterin sie unfreundlich an.
Charmaine beschloss, friedlich zu bleiben, da die Frau immer sehr barsch war. »Ich bin auf dem Weg in die Bibliothek.«
»Um diese Zeit?«
»Ich bin noch nicht müde, und dem kann ich am besten abhelfen, indem ich bei Lampenlicht lese.«
Misstrauisch sah die Haushälterin sie an. »Dann schlage ich vor, dass Sie sich rasch ein Buch holen und anschließend sofort in Ihr Zimmer zurückkehren.« Damit setzte sie ihren Weg nach oben fort.
Verwundert ging Charmaine in die Bibliothek und wählte einen Roman mit dem Titel Stolz und Vorurteil aus. Der große Raum war einladender als ihr Zimmer und das Licht ganz wunderbar. Also setzte sich Charmaine kurzerhand über Mrs. Faradays Anordnung hinweg und ließ sich in einem der hochlehnigen Sessel nieder. Ungefähr eine Stunde lang versank sie in der Geschichte, die so ganz anders war als alles, was sie bisher gelesen hatte. An Stelle von Mr. Darcey und Elizabeth Bennet stellte sie sich Paul und sich selbst als Held und Heldin der Geschichte vor. Oh, eine solche Romanze zu erleben!
Irgendwann unterbrach verstohlenes Gekicher ihren Traum. Mrs. Faraday glaubte vielleicht, dass alle in ihren Betten lagen. Aber dem war nicht so. Charmaine erkannte die Stimmen: Felicia und Anna eilten durchs Haus. Paul hatte nicht mit ihnen zu Abend gegessen. Ob er vielleicht gerade nach Hause gekommen war? Wo immer er sich aufhielt, waren Felicia und Anna nie weit entfernt. Was tun sie nur?
Charmaine zündete eine Kerze an und löschte die Lampe. Dann öffnete sie geräuschlos die Tür. Zu ihrer Überraschung war der Flur dunkel und verlassen, aber durch die französischen Türen des Speisesaals fiel ein Lichtschein. Sie ging hinüber und
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