Im Sommer der Sturme
war erleichtert, als sich die Unterhaltung anderen Themen zuwandte. Tag für Tag mit Paul Duvoisin am Tisch zu sitzen würde nicht ganz einfach werden. Zumindest hatte er sie heute wahrgenommen. Und seine Anwesenheit bei Tisch gefiel ihr natürlich besser als seine Abwesenheit.
Als sie überlegte, was George hier zu suchen hatte, fiel ihr sein Nachname ein. George Richards. Rose Richards … Ich habe deine Schwestern gerade eben erst bei meiner Großmutter abgeliefert . George war also Roses Enkel. Sie erinnerte sich an Yvettes Bemerkung während des Vorstellungsgesprächs. Nana hat gesagt, dass sie nicht mehr so für uns sorgen kann wie früher für Johnny, Paul und George. Deshalb also saß George hier am Tisch. Das erklärte auch sein enges Verhältnis zu Paul. Wie seine Großmutter war auch er mehr als nur ein Angestellter: Er war ein Teil der Familie.
Nach dem Essen räumten Anna und Felicia das Geschirr ab. Charmaine sah genau, wie Letztere Paul Duvoisin schon zum zweiten Mal schöntat. Beim ersten Mal war sie sich noch unsicher gewesen, doch diesmal waren die Zeichen nicht zu übersehen: der Augenaufschlag, die schwingenden Hüften. Mit ihrer olivfarbenen Haut, dem schwarzen Haar und ihrer weiblichen Figur sah Felicia Flemmings hinreißend aus, und Paul schien ihren Anblick zu genießen.
Colette bemerkte es ebenfalls. »Morgen Vormittag möchte ich dich in meinem Salon sprechen, Felicia«, erklärte Colette in scharfem Ton.
Das Mädchen schrak zusammen und knickste. Dann rannte sie davon und ließ sich den ganzen Abend über nicht mehr blicken.
Nach dem Dessert hob Colette die Tafel auf, und die Anwesenden zogen sich in den Wohnraum zurück. Paul und George lehnten ab. »Wir haben noch einiges im Arbeitszimmer zu besprechen«, bemerkte Paul. »Leider kann ich auch Vater einige der Themen nicht ersparen. Nichts Aufregendes, nur …«
»Im Gegenteil, Paul«, fiel ihm Colette ins Wort. »Es wird ihm guttun, in geschäftlichen Dingen wieder mitreden zu können. Je aufregender, desto besser. Er hat lange genug tatenlos herumgesessen.«
Mit einem Nicken verabschiedeten sich George und Paul und gingen in die Bibliothek. Im diesem Moment wurde Charmaine klar, dass die Bibliothek auch als Arbeitszimmer genutzt wurde.
Gegen neun Uhr schliefen die Kinder tief und fest, und Charmaine zog sich in ihr Zimmer im zweiten Oberge schoss zurück. Während ihres ersten Tages im großen Haus war viel geschehen, und ihr Kopf und ihr Herz waren voll von diesen Eindrücken. Es war ein guter Tag gewesen, und sie freute sich schon auf morgen. Mit einem Seufzer stieg sie ins Bett und fiel rasch in einen tiefen Schlaf.
Doch dann träumte sie beunruhigende Dinge. Zu Anfang stand sie am Kai und sah, wie Paul Duvoisin den Hafenarbeiter Jessie Rowlan beschimpfte. Dann wurde Jessie zu ihrem Vater. Paul packte ihn am Kragen und hob ihn, mir nichts, dir nichts, in die Höhe. Im nächsten Moment lag John Ryan rücklings auf dem Boden des Versammlungshauses, und Paul herrschte den Priester an: »Erklären Sie Mr. Ryan, wen seine Tochter geheiratet hat.«
Schweißgebadet erwachte Charmaine und fröstelte. Trotz der schmeichelhaften Andeutung, dass sie Pauls Frau war, war John Ryans Bild sehr lebendig. Du bist hier in Sicherheit … Paul wird dich beschützen. Genau das will der Traum dir sagen. Er wird dich beschützen . Doch trotz dieser beruhigenden Gedanken dauerte es noch eine ganze Zeit, bis sie wieder einschlafen konnte.
Sonntag, 25. September 1836
Charmaines erste Woche als Gouvernante verlief ohne Zwischenfälle. Yvette benahm sich vorbildlich, und Charmaine fragte sich zuweilen, ob Pauls Zornesausbruch vom letzten Sonntag womöglich gar nicht nötig gewesen wäre. Wie dem auch sei. Rose und Colette lobten das Mädchen jedenfalls wegen ihres guten Benehmens. Und während sie gelobt wurde, wanderte Yvettes Blick zu Charmaine, um sie an ihren Part der Abmachung zu erinnern. Ein kleines Zwinkern bestätigte den Handel.
Die Mädchen setzten ihren Klavierunterricht mit unvermindertem Interesse fort. Sie übten täglich eine ganze Stunde, und am Freitag gingen ihnen einige leichte Melodien bereits flüssig von der Hand.
Als am Samstag die Sonne schien, entschied sich Charmaine für ein Picknick. Dr. Blackford war bereits früh am Morgen ins Haus gekommen, um Colette zu behandeln, und die beiden hatten sich in Colettes Räume zurückgezogen. Da Rose darauf bestand, sich um Pierre zu kümmern – »Sie werden sehr viel mehr Spaß mit
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