Im Sommer der Sturme
steckte den Kopf hinein, aber auch hier war niemand.
Anschließend trat Charmaine in den Hof hinaus, wo sie schwacher Blütenduft empfing. Die leichte Brise war kühl, fast kalt, aber sehr erfrischend. Die Luft schien den Duft der Gischt mit sich zu tragen, der sich zart auf ihr Gesicht legte und die Spuren des heißen Tages wegwischte. Charmaine wanderte den Weg entlang. Die Kerze war überflüssig, da hier und dort eine Laterne brannte und der Vollmond das Allerheiligste des Hauses in fahles Licht tauchte. Sie blies die Kerze aus und legte sie zusammen mit dem Buch auf eine der Bänke.
Dann setzte sie sich und dachte mit geschlossenen Augen über ihr neues Leben und alles nach, was im letzten Monat geschehen war. So viele Veränderungen, doch alle zum Besseren, wie sie feststellte. War sie glücklich? Ja, das war sie. Mit der Reise nach Charmantes hatte sie die richtige Entscheidung getroffen. Genau wie Yvette und Jeannette hatte sie von Abenteuern geträumt – die sie nun wundersamerweise auch erlebte. Ihr Leben war nicht länger einförmig und langweilig.
Es wurde immer später, und es war längst Zeit, zu Bett zu gehen. Seufzend erhob sie sich.
»Gehen Sie schon?«
Erschrocken fuhr sie herum. »Es tut mir leid«, sagte Paul und trat unter dem Baum hervor, an dessen Stamm er gelehnt hatte. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Wie lange stehen Sie denn schon dort?«
Er kam näher. »Lange genug, um Sie hier herumwandern zu sehen und um Ihr Gesicht zu beobachten, als Sie auf der Bank saßen. Ehrlich gesagt war ich neugierig. Ihr Gesicht hat so viele Gefühle widergespiegelt – unter anderem sahen Sie verärgert aus.«
Charmaine trat einen Schritt zurück, bis ihre Beine die Bank berührten, von der sie soeben aufgestanden war. »Verärgert war ich sicher nicht, das weiß ich genau.«
»Worum kann sich eine so junge Frau wie Sie nur so sorgen?«, überlegte er laut, ohne auf ihre gegenteilige Beteuerung zu achten. Er musste an sich halten, um ihre Wange nicht zu liebkosen. Ihr Erröten war berauschend. In der vergangenen Woche hatte er oft an sie denken müssen und seit Sonntag noch viel öfter.
»Aber ich war nicht verärgert, Sir, und ich habe mich um nichts gesorgt.«
»Sir? Ich dachte, wir hätten diese formelle Anrede begraben?«
»Paul.« Ihr Herz hämmerte.
»Sind Sie denn zufrieden?«
»Ich denke schon«, flüsterte sie. »Nein, besser gesagt – ich bin zufrieden. Genau das habe ich gedacht, bevor Sie mich erschreckt haben.«
»Wie können Sie nach knapp zwei Wochen schon sicher sein?«
»Das kann ich nicht, aber mein Herz sagt mir, dass ich zufrieden bin.«
Paul lachte leise, als ob ihre Schlussfolgerung ihn begeisterte. Dann trat er näher, sodass ihre Körper einander fast berührten. Charmaine schloss die Augen, weil sie den nächsten Schritt ahnte. Sie fürchtete sich, und gleichzeitig bebte sie vor Erregung. Aber er nahm sie nicht in die Arme. Und als sie die Augen öffnete, war sie erleichtert und wütend zugleich, dass er sich inzwischen auf die Bank gesetzt hatte.
»Bleiben Sie noch ein wenig.« Er zog sie neben sich auf die Bank. »Es gibt keinen Grund, uns in der Gegenwart des anderen nicht wohlzufühlen. In Ihren Augen bin ich nur Ihr Dienstherr. Aber sehr viel lieber wäre ich natürlich Ihr … Ihr Freund . Würde Ihnen das gefallen?«
»Ja, das würde mir sogar sehr gefallen.«
»Wunderbar … Vielleicht könnte ja aus dieser Freundschaft eines Tages auch mehr erblühen. Würden Sie sich das wünschen?«
Er rückte ein Stück näher, sodass sie die Wärme seines Körpers durch ihr Kleid am Schenkel fühlte und sich kaum noch konzentrieren konnte. »Ich denke schon«, flüsterte sie mit bebender Stimme.
Er legte seinen Arm auf die Rückenlehne der Bank und neigte sich ihr zu. »Das Leben kann so herrlich sein, Charmaine. Sie sind eine wunderschöne junge Frau, und ich kann Ihnen jeden Wunsch erfüllen.« Mit verwegenem Lächeln lehnte er sich zurück. Sie schien über seine Worte nachzudenken, was ihn wiederum über ihre Unschuld nachdenken ließ.
»Sie waren schon viel zu nett zu mir, Paul. Gerade am letzten Sonntag hätten Sie wütend auf mich sein können, weil ich Pierre in Ihr Zimmer laufen ließ, aber Sie haben mir stattdessen angeboten, Sie beim Vornamen zu nennen. Mehr kann ich wirklich nicht verlangen. Colette und Sie haben es mir leicht gemacht, mich hier wohlzufühlen.«
Demnach hielt sie ihn für einen Gentleman, dachte er, und zwar im strengsten Sinne.
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