Im Sommer der Sturme
fing Jeannette an zu weinen. »Wird Mama wieder gesund, Mademoiselle?«
»Aber natürlich«, antwortete sie, ohne ihre Ängste zu zeigen. »Wenn Dr. Blackford da ist, wird es ihr bald besser gehen.« Sie trug Pierre ins Wohnzimmer und setzte ihn auf die Bank vor das Klavier. »Ich schlage vor, dass wir ein bisschen singen. Dann fühlen wir uns sofort besser.«
Die Kinder strahlten, aber Charmaines Unruhe wollte nicht weichen. Warum habe ich Colette nur ermutigt, die Kinder auf dem Sonntagsausflug zu begleiten? Natürlich hatte niemand das Unwetter vorhersehen können, nachdem der Tag so strahlend schön begonnen hatte. Doch als sie zu Hause ankamen, waren sie bis auf die Haut durchnässt und froren jämmerlich. Colette bekam fast augen blicklich hohes Fieber. Eine Lungenentzündung, wie Dr. Blackford sagte. Der Schleim saß in den Lungenflügeln fest und erschwerte das Atmen. Zu Charmaines Selbstvorwürfen kam noch Agathas besorgte Miene. Offenbar handelte es sich um etwas Ernstes.
Trotz allem verlief der Tag wie gewohnt. Als Dr. Blackford irgendwann das Krankenzimmer verließ und sich an der offen stehenden Tür zum Kinderzimmer räusperte, schraken alle zusammen.
»Wie geht es meiner Mutter?«, fragte Yvette.
»Ein klein wenig besser«, bemerkte der Arzt mit säuerlicher Miene.
So groß und schlank und mit dunklen, aristokratischen Gesichtszügen hätte Dr. Blackford eigentlich ein gut aussehender Mann sein können. Aber er lächelte nie, und seine verschlossene Miene ließ ihn eher griesgrämig wirken.
»Wenn sie sich weiter erholen soll«, fuhr er fort, »so sollte sie nicht gestört werden, bevor ich es erlaube. Dank dieses kleinen Ausflugs hat sie sich immerhin eine Lungenentzündung zugezogen.«
An diesem Abend hatte Charmaine alle Hände voll zu tun, um die Mädchen zur Ruhe zu bringen. Eigentlich hatte sie Schwierigkeiten vonseiten Pierres erwartet, weil er am Abend zuvor fast eine ganze Stunde lang geweint hatte. Ohne Nana Roses Hilfe – die Arme lag schon den größten Teil der Woche mit Rheumatismus im Bett – fürchtete Charmaine, dass sie einem neuen Weinanfall nicht gewachsen wäre. Aber das Gegenteil war der Fall. Pierre schlief fast augenblicklich ein, doch heute quälten sich die Mädchen mit Schuldgefühlen und sorgten sich um ihre Mutter. Erst als Charmaine ihnen vorlas, wurden ihre Lider schwer, und schließlich forderte die Müdigkeit ihren Tribut.
Danach war sie allein und hatte Zeit genug, um sich selbst Vorwürfe zumachen. Während der letzten beiden Monate hatte Colette sich fast immer schlecht gefühlt. Seit Weihnachten war es mit ihrer Gesundheit rapide bergab gegangen. Umso mehr hatte Charmaine gehofft, dass ein Tag in der Sonne und der frischen Luft Wunder wirken würde. Aber Agatha sollte recht behalten. Sie war kein Arzt und hätte Colette in Ruhe lassen sollen. Jetzt ging es ihr schlechter denn je. Bisher hatte Robert Blackford seine Patientin jeden zweiten Tag besucht, doch von nun an musste er wohl täglich kommen.
Charmaine ging hinunter in die Küche, um ein wenig mit Fatima zu plaudern. »Das Haus ist einfach zu leer«, klagte diese. Und genauso war es. Während Pauls Abwesenheit war George überlastet. In den letzten Wochen hatten sie ihn so gut wie gar nicht zu Gesicht bekommen. Charmaine war bedrückt. In Pauls Gegenwart hatte sie sich geborgen gefühlt, doch seit er fort war, war alles anders, und die Nächte dehnten sich unendlich lang. Sobald die Kinder im Bett waren, konnte sie nur ungeduldig die Stunden zählen.
Um etwas zu tun, ging sie nach unten zum Klavier. Vielleicht lenkte es sie ja ab, wenn sie sich einmal an einem wirklich schwierigen Stück versuchte. Sie suchte nach passenden Noten und fand schließlich in einer Schublade ein abgegriffenes Heft mit zahllosen Eselsohren. Sie lehnte die Noten auf den Ständer, strich ihre Röcke glatt und legte die Finger auf die Tasten.
Sie spielte die ersten sechzehn Takte, deren vier letzte als Sequenz das zweite Thema einleiteten. Sie seufzte. Die Komposition war wunderschön und gleichzeitig sehr traurig. Wieder und wieder begann sie von vorn und lauschte mit träumerischer Miene dem wunderbaren Klang des Instruments. Auf Loretta Harringtons Piano hätte das Stück niemals so weich geklungen. Es war ein Meisterstück, komponiert für ein meisterliches Instrument, und die Klänge erfüllten den weiten Raum.
Wieder bewegten sich Charmaines Finger über die elfenbeinernen Tasten. Langsam wurde ihr das Stück
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