Im Sommer der Sturme
Erleichterung überkam sie, als sie den Geist erkannte. » Colette? «
Die Hausherrin schien benommen zu sein. Ihre Augen glänzten, und ihre Pupillen waren geweitet. Ihr Gesicht war gerötet, und ihr Atem ging schwer. Als sie keine Antwort bekam, ging Charmaine zu ihr hinüber und legte den Arm um die zarten Schultern. Colette schwankte ein we nig und begann zu husten. Als der Anfall vorüber war, schob Charmaine sie in den nächstbesten Sessel. »Geht es wieder? Soll ich Ihnen etwas holen? Vielleicht ein Glas Wasser? Oder soll Travis den Arzt rufen?«
Die letzte Frage drang in Colettes Bewusstsein. »Nein«, flüsterte sie. »Es geht gleich vorbei … nur eine Minute. Geben Sie mir nur eine Minute.« Ihr Blick irrte durch den Raum, als ob sie jemanden suchte. Schließlich sah sie zu Charmaine empor. »Sie … Haben Sie gerade Klavier gespielt?«
»Ja.«
Colette runzelte dir Stirn. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so gut spielen …« Die Worte hingen in der Luft, während ihre Augen wieder die Dunkelheit zu durchdringen suchten. Stand er vielleicht irgendwo im Schatten?
»Ich hätte es selbst nicht gedacht. Es ist eher so, als ob mich die Komposition beherrscht hätte.«
Colettes Blick wurde eindringlich.
»Sie gehören ins Bett«, sagte Charmaine beunruhigt.
»Nein, es geht mir gut. Ich habe nach den Kindern gesehen, als ich plötzlich die Musik gehört habe. Sie haben so wunderschön gespielt, als ob … als ob Sie das Stück komponiert hätten …«
Charmaine lachte ungläubig. »Das könnte ich nie.«
»… als ob Sie Teil dieser Töne wären«, fuhr Colette, ohne auf die Bemerkung zu achten, fort.
Dem konnte Charmaine nicht widersprechen. »Es ist eine wunderbare Komposition. Ich wünschte, ich könnte sie fehlerfrei spielen.«
»Das werden Sie«, ermutigte sie Colette. »Mit etwas Geduld und Übung werden Sie es schaffen.«
»Ich fürchte, da wird sehr viel Übung nötig sein.« Sie nahm die Noten in die Hand und studierte sie genauer. »Es gibt einige Tonfolgen, die einander zu widersprechen scheinen. Ich muss mir das genauer ansehen, bevor ich dem gerecht werden kann. Meine Finger sind immer versucht, die Dissonanzen auszugleichen. Sie klingen einfach zu trostlos.«
Tränen schimmerten in Colettes Augen. »Die Beobachtung ist völlig richtig. Die Komposition braucht das Spiel Ihrer Finger, um sich zu verändern.«
»Zu verändern?«, fragte Charmaine entsetzt. »Es käme mir nie in den Sinn, etwas so Perfektes zu zerstören.«
»Nein, nein, nicht zerstören, sondern weiterentwickeln. Die Musik verlangt danach, verstanden zu werden. Eine sanfte Hand, die Hingabe an jeden Takt, wird die Komposition bereichern. Einige Noten, die in eine andere Richtung weisen, können die Traurigkeit durch Glück und Freude ersetzen. Sie sind stark genug, Charmaine, um ein solches Stück zu zähmen. Nicht zu brechen, aber es ebenso in Besitz zu nehmen, wie es Sie in Besitz genommen hat. Wenn Ihre Liebe zu Musik wird, dann wird die Harmonie perfekt sein.«
Eigentümliche Gedanken, dachte Charmaine. »Wer hat das Stück komponiert?«
»Offensichtlich ein Mensch, der Schweres erduldet hat.«
»Ja«, sagte Charmaine, »der Schmerz muss ihn inspiriert haben.«
Colette nickte und fühlte sich zum zweiten Mal in dieser Nacht völlig zufrieden. »Würden Sie das Stück noch einmal spielen? Es ist so lange her. Aber ich würde es zu gern noch ein letztes Mal hören.«
Charmaine legte die Finger auf die Tasten und ließ die Rhapsodie erneut entstehen.
Mittwoch, 8. März 1837
Colette saß an ihrem Schreibtisch und atmete so tief, wie ihre entzündeten Lungen das erlaubten. Agatha und Robert waren endlich gegangen, und sie hatte einen Moment ganz für sich allein. Sie hatte sich geweigert, im Bett zu bleiben, und war sicher, dass sie mehr Kraft bei der Diskussion mit dem Arzt und seiner Schwester verschwendet hatte, als es sie gekostet hatte, das kurze Stück vom Bett zum Schreibtisch zu gehen. Zugegeben, Roberts Arzneien hatten einen positiven Einfluss gehabt. Obwohl sie noch hin und wieder husten musste, so hatte doch das Senfpflaster den beißenden Schmerz von gestern gelindert, als sie die Anfälle kaum noch hatte kontrollieren können. Außerdem hatte die intensive Zuwendung sie vom Fieber und dem ständigen Frösteln kuriert.
In der letzten Nacht hatte sie nur wenig geschlafen, und doch fühlte sie sich an diesem Morgen geradezu munter und erfrischt. Charmaine Ryan hatte ihr den Weg gewiesen. Jetzt wusste
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