Im Sommer sterben (German Edition)
einschlief.
Sie fragte sich, während sie die Texte der Todesanzeigen miteinander verglich, wie Doris Hottiger mit dem Tod ihres Vaters zurechtkommen und wie sich das viele Geld, das sie erbte, wohl anfühlen würde.
Und dann war da dieser Satz; klein, aber trotzdem groß genug, dass man ihn unmöglich übersehen konnte. Unten, bevor der dicke, schwarze Strich der Sache einen Rahmen gab. Auf jeder Anzeige gleich:
Auf Wunsch des Verstorbenen möge man an Stelle von Blumen das Kinderheim Fluntern und die Universität des Kantons Zürich mit einer Spende berücksichtigen.
In Klammern standen jeweils die Postkonto-Nummern in fetter Schrift. Keine Blumen also für einen Mörder, dachte sie; das ging in Ordnung.
Marianne schlief unruhig. Ein Tornado fegte über Los Angeles hinweg, und das Flugzeug, mit dem sie flog, stürzte vor der Landung ins Meer. Der fette Amerikaner neben ihr trug eine Baseballkappe der Marke von Dutch und beanspruchte nebst seiner eigenen Sitzfläche auch die Hälfte ihres Platzes. Er behauptete, der Tornado sei das Werk von Al-Qaida. Als sie aufwachte, lag sie schweißnass am äußersten Rand ihres breiten Bettes.
Auf dem Bistrotisch in der Küche lag aufgeschlagen das Tagblatt von gestern mit den Todesanzeigen. Was verband Hottiger mit einem Kinderheim und der Universität Zürich? Sie schleppte sich in die Küche, aß eine halbe Wassermelone und trank zwei Gläser Multivitaminsaft. Sie fühlte sich elend. Sicher lag es daran, dass sie wieder rauchte.
Möglicherweise war es Trotz, vielleicht aber auch ihr journalistischer Instinkt, der sie dazu trieb, sich an den Computer zu setzen, die Telefonnummern ausfindig zu machen und anzurufen.
Es gibt Menschen, die ziehen Wurzeln aus zwanzigstelligen Zahlen oder kennen Tausende von Primzahlen auswendig, ohne sich anzustrengen. Einfach so. Iris Hegibach, Sekretärin beim Kinderheim Fluntern, hatte keine solchen Talente. Ihre Begabung bestand einzig darin, jeden Satz so zu formulieren, als läge darin ein Vorwurf: »Wir sind eine Privatstiftung, wussten Sie das nicht? Daten geben wir keine bekannt.«
Marianne gab sich liebenswürdig; sie beabsichtige als Freundin des Hauses Hottiger einen größeren Betrag zu spenden, wüsste aber gerne mehr über das Engagement Ernst Hottigers für die Stiftung Fluntern.
»Als Freundin des Hauses müssten Sie darüber aber Bescheid wissen«, kam es prompt zurück.
Marianne schmunzelte. Frau Hegibach schien die geborene Gralshüterin zu sein, beschützte eine Institution von Gutmenschen vor dem Morast des täglichen Lebens. Doch gegen Schmeicheleien war auch sie nicht gefeit. Es dauerte nicht lange, bis Marianne wusste, was sie wissen wollte. Ernst Hottiger war Präsident der Stiftung gewesen und hatte einen Teil seiner Kindheit in der Obhut des Instituts verbracht.
Der zweite Anruf galt der Universität Zürich, und Marianne fand langsam Spaß daran, den Drachen in den Vorzimmern die Würmer aus der Nase zu ziehen.
»Ernst unterstützte eine große Anzahl wohltätiger Institutionen – ich konnte mir beileibe nicht alle merken«, sagte sie und diktierte nochmals die Nummer des Postcheck-Kontos aus der Anzeige. Dann wurde sie weiterverbunden.
»Institut Professor Madulan«, meldete sich eine zurückhaltende Stimme, und wieder gab sich Marianne als eine Freundin von Ernst Hottiger aus.
»Wie, sagten Sie, ist Ihr Name?«
»Eleonor Winkler«, log Marianne und griff mit der linken Hand nach dem Päckchen Marlboro auf der kleinen Kommode neben dem Tisch. »Eleonor Winkler.«
»Also, Frau Winkler … sagten Sie Eleonora?«
»Nein, nur Eleonor – ohne A am Schluss. Und Winkler mit W wie Winkel.« Marianne musste ein Lachen zurückhalten. Sie fingerte eine Zigarette aus der Schachtel und versuchte sie anzuzünden. Entweder überprüft der Drache online gerade meinen Namen, dachte sie, oder sie ringt mit ihrem Gewissen.
»Wir dürfen eigentlich keine Daten herausgeben«, kam es zögernd.
»Sie brauchen mir keine Daten zu geben …«, hauchte Marianne verständnisvoll. »Aber es wäre schön zu wissen, in welcher Art der Verstorbene mit Ihrem Institut verbunden war. Ich will Sie ja unterstützen – finanziell meine ich.«
Die Dame seufzte.
»Und da hilft es, wenn man wenigstens den Zusammenhang kennt.«
»Das verstehe ich ja«, kam es genervt.
Marianne schwieg eisern und wartete.
»Also, Herr Hottiger ist Mitglied des Gönnervereins unseres Forschungsinstituts.«
»War Mitglied, meinen Sie?«
»Ja,
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