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Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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seinen Schreibtisch und telefonierte mit der Abteilung für Medienarbeit. Man hatte die Pressekonferenz auf halb sieben Uhr abends angesetzt, in einer Stunde also; dann sprach er mit Kobler und rief anschließend noch zu Hause an. Die Einladung heute bei Corinas Eltern am Zugersee, die Wanderung ins Maderanertal, seine ganzen Ferien: Alles im Arsch! Er stand auf, ging zum Fenster und sah zwischen den schräg gestellten Jalousien hinunter auf die Straße. Hastig zog er noch ein paar Mal an seinem Zigarillo, drückte dann eine Lamelle nach unten und warf den brennenden Stummel ins Freie.
    »Wir müssen jetzt unsere Hausaufgaben machen«, war der letzte Satz, den Eschenbach gesagt hatte, bevor er die Medienkonferenz beendete. Es war nicht wirklich eine Antwort auf die Frage, ob man nun gedenke, mit der Schlamperei im Polizeibetrieb fortzufahren oder ob vielleicht die Polizei auch blind sei. Er hatte die Konferenz, die eigentlich mehr einem Verhör glich, auch nicht beendet. Er hatte sie abgebrochen, basta. Nachdem er über eine Stunde lang Prügel bezogen hatte. Einzig Marianne Felber vom Zürcher Tagblatt hatte die ganze Zeit gelächelt, ohne eine einzige Frage zu stellen. Im Gegensatz zu den anderen im Saal – die Polizei eingeschlossen – hatte sie ihre Hausaufgaben gemacht.
    Als der Kommissar das Präsidium endlich verlassen konnte, war es zehn Minuten vor elf. Während er ging, kam ihm die Konferenz vor einem Monat in den Sinn, als der Mord taufrisch war und wie ein weißes Blatt Papier vor ihm gelegen hatte. Nun kam er sich vor wie der Maler, der zum x-ten Mal seine Skizze zerriss, weil die Perspektive nicht stimmte oder der Himmel zu dunkel geraten war. Der Genius ging flöten, wenn man zu viel daran herumdokterte. Er hatte Hunger.
    Bis auf drei Tische war der Schafskopf noch voll. Die großen Schiebefenster gegen die Straße standen offen, und gut genährte Fröhlichkeit hatte sich breit gemacht. Der Kommissar nickte, als ihm Estefan von der Theke aus zuwinkte, dann setzte er sich an den Tisch hinten in der Ecke und streckte die Beine aus.
    Nach einer Weile kam Gabriel aus der Küche, mit Monogramm auf der Schürze und zerzaustem Haar: »Ich habe noch Paella, oder willst du Riesencrevetten auf dem Grill?«
    »Oder ein Stück Fleisch, wenn du hast …« Eschenbach sah Gabriel an und zwinkerte mit den Augen. »Ein richtiges, meine ich.«
    Gabriel musste lachen. »Ein Rindsfilet à point, mit gedämpfter Tomate und Rösti, nehme ich an.«
    Der Kommissar nickte, und als Gabriel wieder in der Küche verschwand, nahm er das Zürcher Tagblatt vom Fenstersims. Er las den Sport- und Wetterbericht, den Artikel über den neuen Theaterdirektor im Schiffbau und die Klatschspalte auf der letzten Seite. Der Inlandteil fehlte.
    »Voilà, à la mode du commissaire«, witzelte Gabriel, der wie ein fröhlicher Komet mit angerichtetem Teller und einer Flasche Wein aus der Küche schoss. »Lass es dir schmecken«, sagte er, nachdem er den Teller liebevoll auf das weiße Tischtuch gestellt hatte. Danach füllte er den Wein in zwei bauchige Gläser und setzte sich.
    »Einen Nebbiolo von Gaja …«, murmelte Eschenbach mit vollem Mund und studierte das Etikett der Flasche. »Du bist völlig plemplem.«
    »Ach, was soll’s; auf uns beide. Auf die Sehenden dieser Welt!«
    Sie ließen das kräftige Rot langsam kreisen, und nach einer Weile hoben sie das Glas unter die Nase: kräftige Eiche, der feine Hauch reifer Johannisbeeren; ein Morgen im Piemont. Die Freunde prosteten sich zu, tranken und sahen sich einen Moment lang schweigend an.
    »Bist du sicher, dass er wirklich blind war?« Gabriel fingerte an der Dekoration herum, die auf dem Tisch stand; einem Blumengesteck in Weiß und Lila. »Ich meine, man kann nicht alles glauben, was in der Zeitung steht …«
    »Ja, er war blind, beinahe jedenfalls.« Eschenbach ließ sich nochmals Wein einschenken. »Er hätte einen Spatzen nicht von einem Raben unterscheiden können. Auch nicht mit einem Zielfernrohr. Geschossen hat der ganz sicher nicht.«
    »Mmh … du meinst also tatsächlich.«
    »Ja, eben.«
    »Und jetzt, was machst du?« Bei dieser Frage zupfte Gabriel die kleine weiße Rose aus dem Tischgesteck. Sie welkte.
    »Keine Ahnung. Ich werde …« Er kaute nachdenklich, sah an Gabriel vorbei und betrachtete das große Bild an der Wand. Es zeigte einen einsamen Strand mit einem vermoderten Baumstrunk, den die Flut vergessen hatte. Strandgut.
    Erst als der Kommissar mit dem Essen

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