Im Sommer sterben (German Edition)
Schweigen, klack, Schweigen, klack. Bis ins Parterre.
»Hat Lenz das gesagt?«
»Was?«
»Das mit der Matter, dass es sie nicht gibt?« Eschenbach stand still. Sie waren unten angelangt. Treppenhäuser sind einsam, steril und hässlich, vor allem in Spitälern, dachte er.
Jagmetti öffnete die Tür zur Eingangshalle. »Nein. Das ist meine Meinung, Lenz sagt nie so was. Nur Fakten und Daten. Etwas anderes interessiert ihn nicht, vermute ich. Ich finde, er macht sich’s ziemlich einfach.«
Eschenbach musste lachen. Er dachte daran, wie es Lenz wohl gerade ging und wie verdammt wenig einfach er es hatte. »Wenn Sie nichts vergessen können, dann merken Sie sich besser nur Wahres oder Falsches.«
»Aber es gibt nicht nur Schwarz und Weiß«, wehrte sich Jagmetti.
»Eben, darum.«
»Wir sollten die Originale überprüfen, hat er gesagt. Geburtsurkunden, Heiratsurkunden, Sterbeurkunden.«
»Können Sie sich ein Leben ohne Urkunden vorstellen, Jagmetti?«
»Nicht wirklich.«
»Und wie ist es mit Urkunden ohne Leben?«
Jagmetti wusste nicht, was er mit dieser Frage anfangen sollte, aber er sah, dass Eschenbach es ernst meinte.
Sie genossen den Blick vom Al Porto über den kleinen Hafen auf den See hinaus. Eine Familie mit zwei Kindern band gerade ihr Motorboot fest. Alle halfen mit, trotzdem schien es nicht richtig zu klappen. Das Boot stand schief, die Wellen drohten es an den Steg zu drücken. Der Vater beschuldigte die Mutter, während der Junge, ein Teenager im Flegelalter, dem Vater die Schuld am misslungenen Manöver in die Schuhe schob. Die Tochter zupfte an ihrem Bikini und schmollte. Wie im richtigen Leben, dachte Eschenbach und nahm noch einen Bissen; die gegrillte Seezunge schmeckte köstlich. Dann wischte er sich mit der Serviette den Mund und eilte kauend zu Hilfe.
Als der Kahn festgezurrt und verankert war, lächelte man sich zu, und der Vater zischte in Richtung der Mutter, es habe gar keinen Grund zur Panik gegeben. Er erntete giftige Blicke.
Eschenbach setzte sich wieder an den Tisch, bestellte einen großen Eisbecher und behauptete, dies sei der schönste Platz am ganzen Zürichsee. Jagmetti entschied sich für Erdbeeren mit Schlagrahm.
»Wenn schon, denn schon«, sagte der Kommissar, als er mit dem Löffel ins Gefrorene stach. »Für das, was wir alleine für die Nachspeise hinblättern, gibt’s eine Woche das Menü eins in der Polizeikantine.«
»Na dann …«, murmelte Jagmetti und schob sich eine Erdbeere mit Sahne in den Mund.
Auf der Fahrt zurück in die Stadt saß Jagmetti am Steuer, und Eschenbach telefonierte ununterbrochen.
Die Sekretärin von Salvisberg im Gerichtsmedizinischen Institut beteuerte, dass ihr Chef umgehend zurückrufen werde. Er sei derzeit unabkömmlich. Eschenbach stellte sich vor, wie Salvisberg in der Kühlkammer von Leichen aufgehalten wurde. Er hatte ihm die Abzüge aus den Pornos zugestellt und um eine »Gegenüberstellung« mit Bettlachs Leiche gebeten.
Der Zweite, den er nicht sofort erreichen konnte, war der Zivilstandsbeamte, der die Hottigers damals getraut hatte. Eschenbach bat um Rückruf und hinterließ die Nummer des Präsidiums. Wenn man Tote schon nicht warten lassen kann, dann wenigstens die Heiratswilligen, dachte er. Vielleicht würde es sich der eine oder die andere nochmals überlegen. Schaden täte es nicht; gerade bei der heutigen Scheidungsrate.
Einzig Schwester Claudia erreichte er, nachdem er dreimal intern weiterverbunden worden war. Wenn auf Pathologen und Zivilstandsbeamte schon kein Verlass mehr war, dann wenigstens auf Krankenschwestern. Eschenbach bedankte sich für das Gespräch und ihre Auskunftsbereitschaft. Sagte etwas darüber, wie präzise sie sich habe erinnern können und wie froh er darüber sei. Sie hörte aufmerksam zu. Als er sie schließlich darum bat, abends für eine kurze Unterredung nach Zürich zu ihm ins Präsidium zu kommen, sagte sie ohne Umschweife zu.
Als sie kurz vor Zürich im Stau standen, erreichte Eschenbach noch den Korporal, der die Hausdurchsuchung bei Bettlach geleitet hatte. Er forderte ihn auf, sämtliche Fotos, Familienalben und ähnliche Gegenstände, die der Tote bei sich im Hause aufbewahrte, zu ihm ins Präsidium bringen zu lassen.
Der Kommissar lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und dachte nach. Vielleicht hatte er ja Glück, und sein Plan ging auf. Dann könnten sie sich die Sache mit den Originaldokumenten sparen, und die Suche nach Frau Matter, die ins Endlose zu laufen
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