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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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umklammert.
    Du stehst auf dem Fußweg an einer großen Straße, Menschen laufen an dir vorüber, während es immer noch schneit. Es sieht aus, als würden sie Masken tragen, weiße Masken aus Schnee, aber Lichter blenden dich, ein buntes Leuchten, flimmernde fremde Neon-Zeichen, die du nicht verstehst, nicht lesen kannst, noch nie gesehen hast. Orange, rot, rosa, hellblau, grün, violett, überall um dich herum, nächtliche Regenbögen über bunten Sonnen, du schließt kurz die Augen und suchst die Dunkelheit und suchst die Stille, wie bist du in diese Stadt, die du nicht kennst, gekommen? Wie lange irrst du schon durch diese endlose Nacht?
    Du willst in eine der schmalen Gassen gehen, aber die Lichter und die Farben, die von dort zu dir dringen, sind noch viel heller und strahlender als die, zwischen denen du jetzt stehst und den Kopf bewegst und deinen Körper drehst und dich immer noch auf diesen Stock stützt. Hohe Häuser, Rechtecke, aus denen farbige Ranken wachsen, auf denen die Zeichen und Symbole leuchten. Du lehnst dich an eine Hauswand und nimmst den Stock und betrachtest den Knauf. Ein Drachenkopf, denkst du. Oder der Kopf eines Dämons. Ein Mann hat dir diesen Stock gegeben, ihn dir überreicht, er lag auf beiden Händen des Mannes, als er ihn dir reichte. Den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Das war vor … Stunden, Tagen, Wochen? »It will not only help you walking. This is an old symbol and it will protect you in our world.«
    Vor dir laufen die Menschen, ein ungeordnetes Fließen in alle Richtungen, die Autos auf der Straße bewegen sich sehr langsam, du siehst unzählige schwarze Limousinen, die zu einem dunklen Band verschmelzen in der Mitte der strahlenden Quader und Türme, und du blickst auf diese große langsame Bewegung der schwarzen Fahrzeuge, blickst auf die bunten Ranken, die aus den Fassaden wachsen und die sich auch zu bewegen scheinen, zu wachsen scheinen, nach oben und quer und diagonal, entlang den Fassaden, große Schriftzeichen, die dir rätselhaft sind. Niemand beachtet dich, wie du da an der Hauswand lehnst, den Stock in beiden Händen hältst, den Kopf des Drachen, den Kopf des Dämons betastest, als wärst du blind. Du bist unter fremden Menschen. Fremde Gesichter. Weiße Masken, wie aus Schnee.
    Du durchsuchst deine Taschen, findest einen kleinen Kalender, AOK, neunzehnhundertneunundneunzig, alle Tage und Monate sind durchgestrichen, übermalt. Du findest ein Flugticket, aber du kannst dich nicht daran erinnern, dass du aus einem Flugzeug gestiegen bist, dass du in ein Flugzeug gestiegen bist. 11. 2. 2000 kannst du noch erkennen, bevor es dir aus der Hand fällt, nein, aus dem Strom der Menschen vor dir, der immer dichter wird, griff eine kleine Hand danach, und es verschwand. Du schließt die Augen und siehst, wie sie dir winken. Du sitzt in einem Zugabteil und lehnst den Kopf an die Scheibe, presst die Stirn an das kalte Glas, blickst zu dem Bus, der unterhalb der Bahnstrecke fährt. Kinder heben die Hände, lachen, Uniformen, Schulranzen, der gelbe Bus biegt ab, verschwindet zwischen flachen, schmalen und grauen Wohnblöcken, und du schaust dem Winken hinterher. Dann plötzlich ein Wald, die Bäume, die wie große Farne aussehen, berühren die Scheibe, hinter der dein Kopf ist. Ein Stock lehnt zwischen deinen Beinen. Der berührt deine Knie und klopft an deine Knie, wenn der Zug durch die Kurven fährt, und du streichst mit den Händen über deine verheilten Wunden und hast das Gefühl, dass da immer noch zwei Löcher unterm Stoff deiner Hosenbeine sind, in die du deine Finger hineindrücken kannst. Und der Wald kommt auf dich zu, und der Wald bewegt sich von dir weg, und Schneisen zwischen den Bäumen, in denen kleine flache Häuser stehen, mit geschwungenen Dächern.
    Das Schneetreiben beginnt. Wo bist du? Wohin gehst du? Öffne deine Augen. Ein dunkler Fluss unterm Zug und unter dir. Kleine Eisschollen auf dem Wasser. Wie die Geräusche sich ändern, wenn du über die Brücken fährst. Hast du nicht Berge gesehen, vor Stunden, Tagen? Als der Mann dir den Stock überreichte. Als der Mann dich zum Ufer des Meeres führte. Flache, geschwungene Hügel. Oder waren das die braunen Dächer der Häuser?
    Der Mann spricht zu dir. Du sitzt in einem Raum aus Papier. Du bist am anderen Ende der Welt. »Sekai, do«, sagt der Mann, und du trinkst aus einer kleinen Schale etwas, das warm in dein schmerzendes Bein dringt, Kälte und das Gefühl, dass es die Beine eines anderen

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