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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Kupfer, Drähte, Leitplatten, Straßen … Bin ich immer noch on-line? Ecki? Hallo? Sind Sie noch da. Dreh dich nicht um und sieh nie in den Spiegel. Hallo? Hallo. Es ist kalt.

Am Grenzfluss
    Er schiebt den Pappteller mit dem halbgegessenen Käsebrötchen zur Seite, wischt die Finger mit der Serviette ab, die er zusammenknüllt und neben das Brötchen legt. Er zieht den Mantelkragen hoch, rückt seinen Schal zurecht. Kalt für November. Er wirft den halbleeren Kaffeebecher in den Papierkorb neben dem Stehtisch, lässt den Pappteller aber stehen, nimmt seinen Lederkoffer, steckt die Zeitung in die Manteltasche und geht durch die Halle zu den Bahnsteigen. Erst muss er suchen; der Tunnel links. Sein Atem dampft. Eine junge Frau versucht, einen Kinderwagen die Treppe hochzuziehen. Klack. Klack. Stufe für Stufe. »Warten Sie …«
    »Danke. Der Fahrstuhl ist kaputt.«
    Er greift mit einer Hand nach der Stange zwischen den Rädern. Das Kind im Wagen kann er nicht sehen, dick eingepackt und versteckt zwischen Decken und Kissen. Als sie oben am Bahnsteig sind, fängt es an zu weinen. Die Frau bedankt sich nochmal, und er sagt: »Keine Ursache.« Er überlegt, wo sie herkommen könnte. Nach Osten klang sie nicht. Eher Hannoveraner Ecke. Der Zug ist noch nicht da, und er nimmt sein Zigarettenetui aus der Innentasche. Er muss seinen Mantel aufknöpfen und spürt den Herbstwind kalt am Hals und auf der Brust. Er hat Davidoff Filter in seinem Lederetui, die sehen am elegantesten aus. Lang und weiß und mit einer kleinen goldenen Banderole vorm langen weißen Filter. Und bei dieser Reise zählt der Eindruck, wie meistens, und er hat oft genug drüber nachgedacht. Er zieht einen Handschuh aus zum Rauchen. Sein silbernes Feuerzeug liegt kühl in seiner Hand. Vor zwanzig Jahren hätte er einen Hut aufgesetzt. Borsalino oder irgendwas Nobles in der Richtung. Heute trägt kein Mensch mehr Hut, schon gar nicht in der Branche, und schon gar nicht im Osten.
    Er hat immer wieder überlegt, ob er nicht doch mit dem Auto anreisen soll. Aber sein Nummernschild wäre aufgefallen, egal ob er den Bielefelder Benz nimmt oder den Audi aus der Stadt. Und am Telefon haben sie ihm nahegelegt, die Dinge erstmal langsam anzugehen, sie hätten sowieso einen Fahrer, der Oberst kann für alles garantieren, aber die Grenze ist nah undsoweiter. Und er hat seinen Wagen, den Audi, bei einem Freund in Neukölln abgestellt. Mit dem Taxi zum Ostbahnhof, der jetzt Hauptbahnhof heißt. Er hatte kurz überlegt, ob er sich gleich zur Grenzstadt fahren lässt. Aber manchmal ist es gut, sich den Dingen langsam zu nähern. Er war eine Weile nicht in Berlin gewesen, das letzte Mal neunzehnhundertachtundachtzig, vor acht Jahren, und da hat keiner geglaubt, dass ein Jahr später das Land hinter der Mauer zusammenbrechen wird, so schnell und plötzlich wie eine Spielzeugburg. Die Stadt ist anders, fühlt sich anders an als damals. Aber er hat Berlin nie gemocht. »Wie gehen die Geschäfte?«, hat er seinen Bekannten gefragt.
    »Ach, weißt du, die Zeiten sind nicht einfach. Die Russen, die Jugos, die Libanesen. Wo soll man da Platz haben? Die alten Deals gelten nicht mehr. Aber man schlägt sich durch.«
    »Das ist er, das ist er. Immer noch.«
    »Und du? Aufbau Ost hab ich gehört?«
    »Auch. Du kennst mich doch.«
    »Komm, darauf nehmen wir einen.«
    »Whisky am Mittag. Ist doch noch alles beim Alten.« Und da saßen sie in dem dunklen Laden in Charlottenburg und tranken Johnnie Walker Black Label und redeten über die alten Zeiten, die mit jedem Whisky besser wurden und sie selbst jünger, während die Putzfrau hinter ihnen die Spuren der Nacht wegwischte.
    Er beobachtet die Frau mit dem Kinderwagen, die einige Meter von ihm entfernt steht und ebenfalls raucht. Das gefällt ihm nicht. Mütter sollten nicht rauchen. Da ist er altmodisch oder neumodisch, wie man’s nimmt. Aber wer weiß, vielleicht raucht sie nur zwei, drei Zigaretten am Tag, weil sie’s nicht ganz schafft aufzuhören, das wäre o.k. Die Ostweiber qualmen wie die Schlote, mehr als die von drüben, also aus seiner Heimat. Denkt er manchmal. Kommt ihm so vor. Kann er sich aber auch täuschen. Denn gequalmt haben sie früher doch alle in der alten Republik; Politiker, Huren, Schauspieler, Hausfrauen. Einmal, gar nicht so lange her, hat er einer Hure, die im sechsten oder siebten Monat war, die Kippe aus der Hand geschlagen. Also einer Ex-Hure. Bei ihm hat sie nicht mehr gearbeitet. Nur bis zum vierten.

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