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Im Stein

Im Stein

Titel: Im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Obwohl die Kunden auf sowas stehen. Wenn da eine Schwangere arbeitet, sowas spricht sich rum. Da kommen die Kunden und wollen alle drauf. Den hohen Leib bespritzen. Aber nicht bei ihm. Sie hat aber weitergeackert, hat er später erfahren. Also nichts mit Ex. Erst auf eigene Rechnung und dann woanders. Schwanger und geil . Er hat ihr ein-, zweimal die flache Hand durchs Gesicht gezogen. Wegen der Kippe. Wegen dem Kind. Das andere ging ihn nichts an. Aber sitzt in seiner Lounge, weil sie noch Papiere bei ihm hat oder irgendeine Schlamperei am Laufen, für die sie Stempel und Unterschrift und sonstwas braucht, und qualmt eine nach der anderen, mit einem Bauch bis zum Kinn. Blöde Kuh.
    Er wirft seine Zigarette auf die Gleise. Er stößt den letzten Rauch aus, beobachtet die Frau mit dem Kinderwagen, sonst ist nicht viel los auf dem Bahnsteig. Nur vereinzelt stehen sie vor den Fahrplänen und Bänken. Es ist düster zwischen den eisernen Bögen, das Nachmittagslicht kommt kaum durch das schmutzige Glasdach. Er blickt auf seine Breitling, sieht, wie die Frau fast synchron ihren Ärmel hochschiebt und sich dann ein Stück über die Bahnsteigkante beugt und in beide Richtungen blickt. Sie sieht ihn, schnippt die Zigarette weg und lächelt. Na, Mädchen, denkt er, ich könnte dein Vater sein. Das ganz junge Blut reizt ihn nicht mehr. So zwischen dreißig, fünfunddreißig und vierzig muss eine Frau schon sein, damit sie ihn interessiert. Gibt natürlich auch Ausnahmen. Seine Frau, mit der er nicht verheiratet ist, ist fünfundvierzig und sitzt in seiner Residenz in der Nähe von Osnabrück. Keine Kinder, keine Frau. Das ist seine Maxime seit fast … dreißig Jahren? Er zündet sich noch eine an. Obwohl er die Raucherei runterfahren will. Jetzt sagen sie den Zug endlich an. Fast pünktlich.
    Wo die wohl hinwill? Definitiv keine Ostpocke. Damit hat er Erfahrung inzwischen. Scheißegal. Er muss sich konzentrieren. In zwei Stunden muss er klar sein. Er hat nicht viel Gepäck mit, rechnet mit ein, zwei Tagen. Er hatte kurz überlegt, Artillerie mitzunehmen. Die Grenze ist ein dunkler Ort, ein wildes Land, Nebel über dem Fluss und tiefe Wälder auf der anderen Seite, Urmenschen, auch sechs Jahre nach der Wende. Aber man muss damit rechnen, kontrolliert zu werden. Er hatte zwar eine Waffenbesitzkarte und auch einen Waffenschein, den hatte er sich in Osnabrück ausstellen lassen, Anfang der Achtziger, da hatte er gute Beziehungen in der Politik und den Ämtern, er war damals oft in Hamburg, geschäftlich, und da begann es Mitte der Achtziger, ziemlich heiß zu werden, dunkle Tage, dunkle Nächte, Nebel vom Meer. Das war zwar nichts im Vergleich mit dem Wahnsinn, der Anfang der Neunziger durch die Städte zu rasen schien, wie eine Seuche aus Gier und Gewalt, aber was kann man schon wissen, neunzehnhundertsechsundneunzig, auch wenn man die Zeiten und Menschen zu kennen glaubte. Er weiß gar nicht, ob der Schein für seine Knarre überhaupt noch gilt. Er schmeißt seine Kippe auf die Schienen, sieht den Zug ein Stück weit weg noch, Schienen und Häuser und der Himmel, der immer grauer wird. Vielleicht ist’s auch ein anderer Zug, für einen anderen Bahnsteig. Er sieht die Kippe zwischen den Schwellen qualmen. Aber er will ja eh weniger rauchen. Die achte heute, er zählte neuerdings mit. Er spürte noch die sechs Whiskys, die er mit seinem Bekannten Mondauge getrunken hat, der eigentlich fast ein Freund ist. Ein guter sogar, wenn er länger drüber nachdenkt. Sechs Whisky, sechs Davidoff Filter. Er schüttelt sich, schließt kurz die Augen, sieht die Lichter des Zuges durch die geschlossenen Lider, der aus dem trüben Nachmittag quietschend und zischend auf dem düsteren Bahnsteig einfährt, hört wieder die Stimme aus den Lautsprechern, seltsam verzerrt, kaum zu verstehen, und die Augen seines Freundes schimmern im Dunkel der Bar, die erst am Abend wieder öffnen wird.
    Er hatte nie so viel mit ihm zu tun gehabt, aber jetzt fühlt er sich ihm seltsam nahe, will ihn um Rat fragen, wegen seiner Reise, lässt es aber dann. Manchmal fragt er sich, warum er nicht nach Berlin gegangen ist, warum er nichts in Berlin am Laufen hatte, also nichts Großes, aber irgendwie war das nicht seine Stadt. München, Neuss, Bielefeld, der Ruhrpott, Hamburg, da fühlte er sich sicher. Meistens. Und auch jetzt in der Stadt im Osten, seiner neuen Zweigstelle, seiner Dependance seit ein paar Jahren. Aber Berlin, diese große, zerrissene Stadt, die ihm

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