Im Strudel der Gefuehle
her, seit mich jemand mit >Sir< angesprochen hat«, sagte er mit einem undurchschaubaren Lächeln. »Mein Name ist Rafe.«
»Mr. Rafe...«
»Einfach nur Rafe.«
Er feuerte einen Schuß ab und stöhnte mit zusammengebissenen Zähnen, als er mit seinem verwundeten Arm gegen die Wand der Kutsche stieß.
»Sparen Sie die Munition«, sagte Jessica, während sie Rafes Jacke aufknöpfte. »Wolfe hat die Lage im Griff. Ich will mich erst einmal um Ihre Verletzung kümmern.«
»Wolfe? Ist das Ihr Mann?«
Sie nickte.
»Was für ein Glückspilz.«
Überrascht schaute Jessica auf. Rafe beobachtete sie mit seinen hellen, grauen Augen. Sein Blick war voller Bewunderung, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Sie lächelte verunsichert und machte sich wieder daran, Rafe die Jacke auszuziehen.
»Glück ist Ansichtssache«, sagte sie. »Können Sie die Jacke über die rechte Schulter ziehen?«
Von oben erklangen erneut Schüsse. Die Indianer erwiderten das Feuer, aber die Schüsse waren spärlich und klangen, als wenn sie von weit her kamen. Rafe schaute aus dem Fenster, steckte den Revolver weg und quälte sich aus seiner schweren Jacke. Jessica wurde noch einmal daran erinnert, wie groß der Mann war. Wäre da nicht ein Funken Humor in Rafes Augen gewesen, so hätte er eine ziemlich furchteinflößende Gestalt abgegeben.
»Sie sind immer noch hinter uns her«, sagte Rafe. »Ihr Mann mit seinem Gewehr ist wirklich beeindruckend. Bestimmt machen die Pferde der Indianer das nicht mehr lange mit. Die Kerle hatten mich schon ein ganzes Stück verfolgt, bevor ich auf die Route der Postkutsche gestoßen bin.«
Mit seinem unverletzten Arm hielt Rafe sich selbst und Jessica fest, während sie in der wild auf und ab springenden Kutsche seine Verletzung begutachtete. Besorgt verzog sie das Gesicht, als sie sah, wie blutdurchtränkt sein graues Wollhemd war. Ohne ein weiteres Wort riß sie sein Hemd noch weiter auf, um besser an die Wunde heranzukommen. Nachdem sie Rafes muskelbepackten Arm untersucht hatte, atmete sie erleichtert auf.
»Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte«, sagte sie und hob den Saum ihres Rocks. »Die Kugel hat den Knochen nicht getroffen. Sie haben ein Stück Haut und Muskeln verloren, aber davon haben Sie ja genug. Haben Sie ein Messer?«
Rafe zog ein langes Messer aus der Scheide an seinem Gürtel und reichte es ihr mit dem Griff vorneweg. »Passen Sie auf. Mit dem Messer rasiere ich mich morgens.«
Vorsichtig ergriff sie das Messer und warf einen kurzen Blick auf die bronzefarbenen Stoppeln, die sein Gesicht bedeckten. Dabei lächelte sie in sich hinein. »Tatsächlich? Und wann war das das letzte Mal?«
Er lachte kopfschüttelnd und sagte dann: »Sie erinnern mich an meine Schwester. Die war auch so ein kleines vorlautes Ding. Jedenfalls war sie das früher. Ich habe sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Das ist jetzt auch schon viel zu lange her. Wenn man den Drang hat, in der Gegend herumzuziehen, bekommt man seine Familie genauso selten zu sehen, als wenn einen das Goldfieber gepackt hat.«
Mit bemerkenswerter Geschwindigkeit schnitt Jessica ihren Petticoat in Streifen. Das Messer war tatsächlich rasiermesserscharf. Es glitt mühelos durch die feine, eisblaue Seide des Petticoats, dessen Farbe zu der ihres Kleides paßte. Während sie Rafes Arm verband, wurde draußen wieder geschossen.
Rafe horchte auf. Diesmal blieb das Feuer unerwidert. »Hört sich ganz so an, als hätten sie aufgegeben.«
»Gott sei Dank«, sagte Jessica aus tiefstem Herzen. »Wolfe war da oben so ungeschützt.«
»Sie waren selbst die ganze Zeit in der Schußlinie, Ma’am. Die Wände der Kutsche sind nicht dick genug, um eine Kugel auf kurze Entfernung aufzuhalten.«
»Daran hatte ich gar nicht gedacht«, gab sie zu. »Ich war zu sehr um Wolfe besorgt.«
»Wie ich schon sagte: der Mann ist ein Glückspilz.«
»Vielleicht findet er das eines Tages auch«, sagte Jessica leise. Sie riß die Seide in der Mitte durch und verknotete den Verband.
»Na bitte. Das müßte die Blutung zum Stillstand bringen. Bei der nächsten Station wasche ich die Wunde mit Seife und sauberem Wasser noch einmal aus.«
»Das ist wirklich nicht nötig.«
»Ich glaube doch«, sagte sie, während sie Rafe in die Jacke half. »Ein Mann namens Semmelweis hat herausgefunden, daß sich das Kindbettfieber vermeiden läßt, wenn sich der Arzt vor jedem neuen Patienten die Hände wäscht. Wenn sich eine Infektion vermeiden läßt, indem
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