Im Strudel der Gefuehle
ein richtiger Schneesturm losbricht.«
Unter den hellen, bronzefarbenen Bartstoppeln war Rafes Miene vollkommen ausdruckslos. Er wußte, warum Wolfe sie ständig zur Eile antrieb. Sie hatten bemerkt, daß sie nicht die einzigen waren, die zum Paß unterwegs waren. In den letzten sechs Stunden waren sie an mehreren Stellen vorbeigekommen, an denen jemand ein Lager aufgeschlagen hatte, um den nächsten Sturm abzuwarten. Je näher sie dem Paß kamen, desto wahrscheinlicher war es, daß sie Fremden begegnen würden.
»Goldfieber«, murmelte Rafe. »Eine Krankheit schlimmer als die Cholera.«
»Das glaube ich kaum. Ich habe die Cholera durch ein Dorf fegen sehen wie eine Sense durch ein Kornfeld. Nichts und niemanden läßt sie am Leben. Es gibt keine Erwachsenen mehr, um die Toten zu begraben, und keine Kinder, um sie zu betrauern.«
Er starrte Jessica voller Erstaunen an. »Und Sie haben das überlebt?«
Sie nickte. »Ich war damals gerade neun.«
»Herr im Himmel«, murmelte er. »Wie sind Sie davongekommen?«
Jessica lächelte erschöpft. »Wie ich bereits sagte, ich bin nicht so zerbrechlich, wie ich aussehe.«
»Das will ich auch hoffen«, entgegnete Rafe, »sonst schaffen Sie es nämlich nicht bis zum Paß. Diese Berge sind hier mindestens so gefährlich wie in Südamerika und noch ein ganzes Stück schlimmer als alles, dem ich damals in Australien begegnet bin.«
»Und doch sind Sie von diesen Bergen fasziniert.«
Rafe zögerte. Er hatte nicht damit gerechnet, daß Jessica ihn verstehen würde. »So hatte ich das noch nicht gesehen, aber Sie haben recht. Diese Berge hier sind nicht so wie all die anderen, die ich in meinem Leben schon gesehen habe. Höher als der liebe Gott sind sie und hinterlistiger als der Teufel selbst. Und doch haben die Hänge und die langgezogenen Täler eine gewisse Schönheit...«
Seine Stimme klang unsicher und verträumt. »Es ist, als hätte ich eine Ahnung, daß irgendwo da draußen eine warme, gemütliche Blockhütte steht und drinnen sitzt eine schöne Frau. Und beide warten nur auf mich.«
»Sie sind ein guter Mensch, Rafael Moran«, sagte Jessica. Ihre Stimme war voll bittersüßer Sehnsucht. »Ich hoffe, Sie finden sie eines Tages.«
Rafe betrachtete Jessica aufmerksam. Seine Augen hatten die gleiche Farbe wie der Himmel über ihnen. Jessicas Melancholie schien überwältigend zu sein. Die Erschöpfung ließ ihre Lippen blaß und angespannt aussehen.
Eine flüchtige Bewegung auf dem Weg vor ihnen erregte Rafes Aufmerksamkeit. Im selben Moment, als seine Hand sich auf den Kolben des Gewehrs legte, das er stets bei sich trug, tauchte die große, dunkelbraune Stute, die Wolfe in Canyon City gekauft hatte, auf.
»Da kommt Wolfe«, sagte Rafe und steckte sein Gewehr zurück in den Sattelholster.
Jessica nickte und verfiel wieder in den Zustand der Benommenheit, der sie jedesmal überkam, wenn sie sich nicht mit aller Kraft zusammenriß.
Insgeheim beschloß Rafe vorzuschlagen, daß sie heute ihr Lager etwas früher aufschlugen, falls Wolfe nicht von selbst auf die Idee kam. Von Wolfe ging eine innere Unruhe aus, als er näher kam. Noch bevor er etwas sagen konnte, wußte Rafe schon, daß sie ihr Lager heute nicht würden früher aufschlagen können.
»Oben auf dem Paß schneit es«, sagte Wolfe. »Wenn wir jetzt nicht durchkommen, müssen wir ein Lager aufschlagen und so lange warten, bis der Paß wieder frei ist. Das kann eine Woche oder noch länger dauern. Selbst wenn wir kein Feuer machen, ist es immer noch gefährlich.«
»Ein provisorisches Lager?« fragte Rafe. »Haben wir noch jemanden vor uns?«
Wolfe nickte.
»Hat man Sie gesehen?«
»Nein.« Wolfe griff in seine Satteltasche und nahm eine Schachtel mit Patronen heraus. »Haltet euch rechts, nachdem ihr den Fluß überquert habt; dann immer an der Talsohle entlang. Wartet auf mich im Wald auf der anderen Seite.«
Ohne Vorwarnung warf Wolfe Rafe die Schachtel mit der Munition zu. Als Rafe sie mit einer Handbewegung auffing, die kaum mit bloßem Auge zu erkennen war, mußte Wolfe lächeln.
»Sie sind wirklich Renos Bruder. Die besten Reflexe, die ich je gesehen habe, vielleicht mit Ausnahme von Cal.« Wolfes Lächeln verblaßte. »Können Sie mit einem Gewehr umgehen?«
»Besser als die meisten anderen, aber lang nicht so gut wie Sie.«
»Dann nehmen Sie Jessicas Karabiner. Und halten Sie ihn ständig bereit, auch wenn Sie im Sattel sitzen.«
Rafe lehnte sich zur Seite, zog den Karabiner aus Jessicas
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