Im Sturm: Thriller (German Edition)
Washington Monument vorbeigegangen waren. Sie hatten das einhundertfünfzig Meter hohe Bauwerk über die Wendeltreppe erklommen und waren erschöpft, aber stolz auf der Aussichtsplattform angekommen. Eine vergleichbare Höhe mußte er nun alle neunzig Minuten überwinden — aber es gab keine glatten, regelmäßigen Stufen, keinen Aufzug nach unten und auch kein Taxi zum Hotel.
Drei Stunden nach dem Aufbruch überwanden sie zehn Höhenlinien (oder zweihundert Meter) und überschritten laut Karte die Grenze zwischen den Kreisen Skorradalshreppur und Lundarreykjadashreppur. Kein Schild verkündete diesen Sachverhalt. Hier waren nur Einheimische unterwegs, und die kannten sich sowieso aus. Zwei Kilometer weiter wurden sie mit einem verhältnismäßig ebenen Geländestrich zwischen zwei Mooren belohnt. Der Boden war mit Geröll und Asche von einem vier Kilometer entfernten erloschenen Vulkan bedeckt.
»Pause!« rief Edwards und setzte sich neben einen meterhohen Felsblock, der ihm als Rücklehne dienen sollte. Zu seiner Überraschung kam Vigdis zu ihm und setzte sich ihm gegenüber.
»Wie geht’s heute?« fragte er. Ihr Blick war nicht mehr so leblos, stellte er fest. War die schreckliche Erinnerung verblaßt? Nein, schloß er, dieses Grauen würde sie nie vergessen. Aber das Leben ging weiter, und die Zeit heilte viele Wunden.
»Ich habe Ihnen noch nicht gedankt. Sie haben mir das Leben gerettet.«
»Ich konnte nicht zulassen, daß man Sie umbrachte«, erwiderte er und fragte sich, ob er das auch ehrlich meinte. Hätte er die Russen auch angegriffen, wenn die drei Hausbewohner schon tot gewesen wären? Oder hätte er abgewartet und das Haus erst ausgeplündert, als sie wieder fort waren? Zeit, sich der Wahrheit zu stellen.
»Ich tat das nicht nur Ihretwegen.«
»Das verstehe ich nicht.«
Edwards holte seine Brieftasche hervor und zeigte ihr ein fünf Jahre altes Foto. »Das ist Sandy, Sandra Miller. Wir wuchsen in einer Straße auf und gingen zusammen zur Schule. Vielleicht hätten wir eines Tages geheiratet«, sagte er leise. Vielleicht auch nicht, fügte er insgeheim hinzu; Menschen ändern sich. »Ich ging auf die Luftwaffenakademie, sie zur University of Connecticut in Hartford. Zwei Jahre später verschwand sie. Eine Woche später fand man sie im Straßengraben. Sie war vergewaltigt und ermordet worden. Man konnte dem Verdächtigen nichts nachweisen, aber da er zwei andere junge Frauen vergewaltigt hatte, kam er in eine Nervenheilanstalt. Es hieß, er sei geistig gestört und daher nicht schuldfähig gewesen. Eines Tages wird er also als geheilt entlassen. Aber Sandy ist und bleibt tot.« Edwards starrte zu Boden. »Ich konnte nichts machen, war ja kein Polizist. Außerdem war ich zweitausend Meilen entfernt. Diesmal aber war ich an Ort und Stelle.« Seine Stimme verriet keine Emotionen. »Diesmal war die Lage anders.«
»Lieben Sie Sandy noch?«, fragte Vigdis.
Was sage ich jetzt? fragte sich Mike. Liebe empfand er jetzt, fünf Jahre später, wohl nicht mehr. Außerdem hatte er ja nicht gerade keusch gelebt. Er sah sich das Bild an, das drei Tage vor ihrem Tod aufgenommen worden war. Dunkles, schulterlanges Haar, der Kopf ein wenig geneigt, das schelmische Lächeln, das mit einem ansteckenden Lachen einhergegangen war ... alles vergangen. »Ja«, antwortete er schließlich, und nun schwang Gefühl mit.
»Sie haben es also für Ihre Sandy getan?«
»Ja«, log Edwards und dachte: Ich habe es um meiner selbst willen getan.
»Ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen.«
»Mike. Michael Edwards.«
»Sie haben es für mich getan, Michael. Ich habe Ihnen mein Leben zu verdanken.« Der Hauch eines Lächelns. Sie legte ihre Hand auf seine. Sie war weich und warm.
27
Verluste
Keflavik, Island
»Anfangs dachten wir, sie wären nur von der Küstenstraße abgekommen. Das fanden wir im Fahrzeug.« Der Major der Militärpolizei hielt eine zerbrochene Wodkaflasche hoch. »Dann aber entdeckte ein Sanitäter an einer der Leichen eine Stichwunde.«
»Und Sie haben die Isländer als lammfromm bezeichnet, Genosse General«, bemerkte der KGB-Oberst trocken.
»Der Fall läßt sich nur schwer rekonstruieren«, fuhr der Major fort. »Nicht weit von der Unfallstelle brannte ein Bauernhaus nieder. In den Trümmern fanden wir zwei Leichen. Todesursache in beiden Fällen: Erschießen.«
»Und wer war das?« fragte General Andrejew.
»Eine Identifizierung ist unmöglich. Die Todesursache stellten wir anhand von
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