Im Sturm: Thriller (German Edition)
Roschkow schlichtete den Streit gebieterisch mit einem dünnen, stetigen Strahl kalten Wassers auf die erhitzten Ziegelsteine in der Mitte des Raumes. Das davon ausgelöste Zischen reichte aus, eventuelle Horchgeräte im Raum zu zerstören, wenn sie in der feuchten Luft nicht schon längst korrodiert waren. Roschkow hatte sich noch nicht anmerken lassen, was bevorstand, weil er es für besser hielt, die Männer mit einem Schock zu konfrontieren und ihre freimütigen Reaktionen abzuwarten.
»Genossen, ich habe eine Erklärung abzugeben.«
Die Gespräche verstummten, die Männer schauten ihn fragend an.
»Genossen, in vier Monaten, genau gesagt am 15. Juni, starten wir eine Offensive gegen die Nato.«
Einen Augenblick lang war nur das Zischen des Dampfes zu vernehmen. Dann lachten drei Männer, die sich auf der Fahrt vom Kreml in ihren Wagen einen kräftigen Schluck genehmigt hatten, laut auf. Andere, die nahe genug saßen, um das Gesicht Roschkows sehen zu können, schwiegen.
»Ist das Ihr Ernst, Genosse Marschall?« fragte der Oberbefehlshaber West. Er bekam ein Nicken zur Antwort und sprach weiter: »Könnten Sie uns dann bitte den Grund für dieses Unternehmen nennen?«
»Sicher. Über die Katastrophe in Nischnewartowsk sind Sie alle informiert. Was Ihnen noch nicht bekannt ist, sind die strategischen und politischen Implikationen.« Er umriß knapp alle Entscheidungen des Politbüros. »In vier Monaten starten wir die entscheidendste Militäroperation in der Geschichte der Sowjetunion: die Zerschlagung der Nato als politische und militärische Macht. Und das Unternehmen wird erfolgreich verlaufen.«
Als er geendet hatte, schaute er die Offiziere schweigend an. Der Dampf begann die erwünschte Wirkung zu zeigen, ernüchterte jene, die getrunken hatten, und brachte sie zum Schwitzen. Gewöhnt euch ruhig daran, dachte Roschkow, im Lauf der nächsten Monate werdet ihr gehörig schwitzen müssen.
Dann sprach Pawel Alexejew, stellvertretender OB Südwest. »Gerüchte habe ich ja gehört. Aber steht es denn so ernst?«
»Jawohl. Wir haben genug Treibstoff für zwölf Monate unter Friedens- und für sechzig Tage unter Kriegsbedingungen.« Daß dabei bis Mitte August die Wirtschaft am Boden liegen würde, verschwieg er.
Alexejew beugte sich vor und schlug sich mit den Birkenzweigen. Er war mit fünfzig Jahren der zweitjüngste Offizier im Raum, ein respektierter Soldat und Intellektueller; ein durchtrainierter, gutaussehender Mann mit den Schultern eines Holzfällers. Aus scharfen dunklen Augen spähte er durch die aufsteigende Dampfwolke. »Mitte Juni?«
»Jawohl«, erwiderte Roschkow. »Soviel Zeit bleibt uns, um unsere Pläne und Truppen vorzubereiten.« Roschkow schaute sich im Raum um. Schon machte der Dampf einen Teil der Decke unsichtbar.
»Ich nehme an, daß wir hier sind, um ganz offen sprechen zu können.«
»So ist es, Pawel Leonidowitsch«, antwortete Roschkow, nicht im geringsten überrascht, daß Alexejew als erster das Wort ergriffen hatte. Roschkow hatte die Karriere dieses Mannes im Lauf der vergangenen zehn Jahre mit Bedacht gefördert. Alexejew war der einzige Sohn eines verwegenen Panzergenerals des Großen Vaterländischen Krieges, der unter Chruschtschow bei einer der unblutigen Säuberungen Ende der fünfziger Jahre zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden war.
»Genossen.« Alexejew erhob sich und stieg von der Holzbank auf den Marmorboden. »Ich akzeptiere alles, was Marschall Roschkow gesagt hat. Aber – vier Monate! Vier Monate, in denen unser Vorhaben aufgedeckt werden, uns das Überraschungsmoment entgleiten könnte. Was mag dann geschehen? Nein, für einen solchen Fall haben wir Plan Schukow-4! Sofortige Mobilmachung! In sechs Stunden können wir wieder auf unseren Befehlsständen sein. Wenn wir schon einen Überraschungsangriff führen wollen, dann so, daß er geheim bleibt: in zweiundsiebzig Stunden!«
Wieder hörte man nur das Wasser auf den hellbraunen Ziegeln verdampfen, aber dann brach im Raum ein Stimmengewirr los. Schukow-4 war die Wintervariante eines Plans, der die Aufdeckung eines beabsichtigten Überraschungsangriffs der Nato auf den Warschauer Pakt voraussetzte. Für diesen Fall sah die sowjetische Militärdoktrin den Angriff als beste Verteidigung vor: der Nato durch einen Frontalangriff der Panzerdivisionen der Kategorie A in Ostdeutschland zuvorkommen.
»Wir sind aber nicht bereit!« wandte OB West ein. Er saß in Berlin »vor Ort« und befehligte die
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