Im Sturm: Thriller (German Edition)
Militärdoktrin: »Nein. Gewiß, wir setzen auf den Überraschungseffekt, wenn unser erster schwerer Schlag den Weg für den kühnen Vorstoß unserer Panzer freimacht. Während das Politbüro den Westen mit Friedensangeboten in Sicherheit wiegt, bereiten wir unseren Schlag vor, und wenn er fällt, trifft er den Gegner, der erst drei Tage vorher Verdacht geschöpft hat, unvorbereitet.«
Die Offiziere folgten Roschkow, um sich unter der kalten Dusche den Schweiß von den Leibern zu waschen. Zehn Minuten später versammelten sie sich erfrischt im Speisesaal im zweiten Stock. Die Kellner, größtenteils KGB-Informanten, stellten fest, daß eine etwas gedrückte Stimmung herrschte. Unterhaltungen wurden so leise geführt, daß sie nichts mitbekamen. Die Generale wußten wohl, daß das Lefortowo-Gefängnis des KGB nur einen knappen Kilometer entfernt war.
»Unsere Pläne?« fragte der OB Südwest seinen Stellvertreter.
»Wie oft haben wir die schon durchgespielt?« bemerkte Alexejew. »Alle Karten und Formeln haben wir seit Jahren studiert, wissen, wo die gegnerischen Truppen und Panzerverbände konzentriert sind, kennen die Straßen und Autobahnen, die wir benutzen werden. Unsicher ist nur, ob unsere sorgfältig ausgearbeiteten Pläne auch Erfolg haben werden. Wir sollten sofort angreifen. Dann hätten nämlich beide Seiten mit diesem Unsicherheitsfaktor zu kämpfen.«
»Und wenn unsere Offensive zu erfolgreich ist und die Nato Kernwaffen einsetzt?« fragte Roschkow. Alexejew gestand zu, daß dieser Faktor entscheidend wichtig und unberechenbar war.
»Das könnte ohnehin eintreffen. Genosse, alle unsere Pläne setzen einen Überraschungseffekt voraus. Die Kombination von Überraschung und Erfolg wird den Westen zwingen, die nukleare Option zu erwägen –«
»Irrtum, junger Freund«, rügte der OB Südwest. »Das ist eine rein politische Entscheidung. Auch die Entscheidung für den Nichteinsatz von Kernwaffen ist ein politischer Prozeß, der seine Zeit braucht.«
»Wie können wir uns des strategischen Überraschungseffekts sicher sein, wenn wir vier Monate lang warten?« fragte Alexejew.
»Die politische Führung hat uns die entsprechenden Maßnahmen versprochen.«
»In dem Jahr, in dem ich an die Frunse-Akademie kam, verkündete die Partei, wann wir ins Stadium des wahren Kommunismus eintreten würden. Das war ein feierliches Versprechen. Der Termin war vor sechs Jahren.«
»Pascha, bei mir können Sie sich so etwas erlauben, ich habe Verständnis. Aber wenn Sie nicht lernen, Ihre Zunge im Zaum zu halten –«
»Verzeihung, Genosse General, aber wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß uns die Überraschung nicht gelingt. ›Im Gefecht sind trotz sorgfältigster Vorbereitungen Risiken unvermeidlich‹«, zitierte Alexejew aus einem Lehrbuch der Frunse-Akademie.
»Korrekt, Pascha.« Der OB Südwest lachte und schenkte seinem Stellvertreter georgischen Wein ein.
»Wenn der Überraschungsangriff mißlingt, steht uns ein Zermürbungskrieg von ungeheuren Ausmaßen bevor, eine hochtechnisierte Version von 14/18.«
»Den wir gewinnen werden.« Roschkow setzte sich neben Alexejew.
»Richtig«, stimmte Alexejew zu. Alle sowjetischen Generale gingen von der Voraussetzung aus, daß einer Offensive, die keine rasche Entscheidung brachte, ein blutiger Abnutzungskrieg, der beide Seiten gleichermaßen erschöpft, folgen mußte. Und für einen solchen Krieg waren die Sowjets dank größerer Truppen- und Materialreserven besser gerüstet. »Vorausgesetzt, daß wir das Tempo der Schlacht bestimmen und es unseren Freunden von der Marine gelingt, der Nato den Nachschub aus den USA abzuschneiden. Die Nato hat Kriegsmaterial für rund fünf Wochen auf Lager. Unsere schöne, teure Flotte muß den Atlantik abriegeln.«
»Maslow?« Roschkow machte eine Geste zum Oberbefehlshaber der Marine. »Bitte sagen Sie uns etwas über das Kräfteverhältnis im Nordatlantik.«
»Was ist unser Auftrag?« fragte Maslow argwöhnisch.
»Wenn der Überraschungsangriff im Westen mißlingt, Andrej Petrowitsch, werden unsere teuren Genossen von der Marine Europa von Amerika abschneiden müssen«, erklärte Roschkow. Seine Reaktion auf die Antwort war ein ungläubiges Blinzeln.
»Geben Sie mir eine Fallschirmjägerdivision, und ich erfülle diese Aufgabe«, erwiderte Maslow nüchtern. Er hatte ein Glas Wasser in der Hand und den Alkohol an diesem Februarabend mit Bedacht gemieden. »Die Frage ist nur, ob unsere strategische Haltung auf
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