Im Süden: Die Bayou-Trilogie (German Edition)
verstand.
»Genau«, meinte Shade. »Die Sache ist ziemlich heikel, und zwar in jeder Beziehung.«
François hatte ein schmaleres Gesicht als sein Bruder und schärfere, eher romanische Gesichtszüge. Seine Augen waren haselnussbraun statt blau, aber beide hatten eine ähnlich trotzige Kinnpartie. François zog bei der Antwort seines Bruders eine seiner dichten Augenbrauen hoch.
»Warst du auf der Abendschule, Rene?«
»Komm mir bloß nicht auf die Tour«, blaffte Shade. Er hatte keinen Collegeabschluss. Im Grunde hatte er nur ein Jahr lang so getan, als wollte er einen machen, und François konnte nicht oft genug auf diese angeblich unüberbrückbare Kluft hinweisen, die sich durch diesen Mangel an akademischer Bildung zwischen ihnen auftat. Solche Bemerkungen ärgerten Shade jedes Mal, und er merkte, dass aus irgendeinem Grund, der seine eigene rätselhafte Logik besaß, Verwandte ihn viel schneller und heftiger in Wut versetzen konnten als alle anderen Bewohner dieses Planeten. »Ich dachte, hier geht’s es um die Arbeit. Den Rest können wir später austragen.«
François hob in stummer Zustimmung das Kinn.
»Okay«, sagte er. »Also, so viel ich bisher erfahren habe, hat Rankin einen Eindringling überrascht, der furchtbar erschrocken ist und Rankin sofort erschossen hat. Vielleicht weil dieser ihn identifizieren konnte.«
»Himmelarsch«, murmelte Shade. Er trat an das Fenster, aus dem der Captain vorhin so fasziniert geblickt hatte. »Du sollst mir also auf die Finger schauen. Meinen beschissenen kleinen Bruder haben sie auf mich angesetzt, damit ich nicht den falschen Staub aufwirble. Ich hab’s gewusst. Gleich, als ich zur Tür reingekommen bin.«
»Ach, hör auf«, bellte François. »Ich bin nur hier, um die Ermittlungen zu leiten. Du weißt, dass der Fall einige Leute ziemlich nervös macht. Es könnte ein paar böse Missverständnisse geben, wenn gewisse Dinge an die Öffentlichkeit kommen. Das weißt du genau. Also müssen wir die Sache schnellstens klären.« François erhob sich vom Schreibtisch und sah seinen kleineren Bruder an. »Außerdem bin ich nur ein Jahr jünger.«
»Du bist schon lang nicht mehr jünger.«
Ein Lächeln spielte um François’ volle Lippen.
»Ich weiß«, sagte er.
Eine Art zärtliche Trauer erfasste Shade. Teilweise, weil er seinen Bruder sehr mochte und ihn genau kannte, teilweise, weil er ihn überhaupt nicht kannte. Diese finstere Kammer, in der unsere tiefsten und geheimsten Wünsche und Überzeugungen hausen, hat eine gut versiegelte Tür. Je länger man am Knauf rüttelt und durchs Schlüsselloch späht, desto mehr muss man Vermutungen anstellen, und desto weniger weiß man.
»Klingt, als wärst du stolz darauf, dass du älter bist, als du eigentlich sein solltest.«
»Oh.« François seufzte theatralisch. »Die Jugend wird oft hemmungslos überschätzt. Dabei ist sie nur eine Seitenstraße.« Er zuckte blitzschnell die Achseln. »Mich beeindruckt die Hauptstraße weit mehr.«
»Und du bist bereit, den Preis dafür zahlen, um darauf zu fahren.«
»Du zahlst den Preis, ob du nun fährst oder gefahren wirst. Also, wollen wir uns jetzt unserem Alter entsprechend verhalten?«
Es hatte eine Zeit gegeben, die noch gar nicht so lange zurücklag, da hatte sich François energisch für die ausgebeuteten Massen eingesetzt und mit leidenschaftlichen Plädoyers die Bettler und Versager verteidigt, deren Menschlichkeit er nicht geleugnet sehen wollte. Seine Haltung hatte für das Establishment, das die Personen in seiner unmittelbaren Umgebung nicht immer fair behandelt hatte, eine Bedrohung dargestellt; wenn er um Gerechtigkeit für die kleinen Fische kämpfte, war er schnell streitlustig geworden.
In den letzten Jahren jedoch hatte sich etwas verändert; eine überraschende Metamorphose hatte stattgefunden. Dafür gab es verschiedene Gründe: die Ehe mit einer Frau aus Hawthorne Hills; der dreißigste Geburtstag; eine Reihe lehrreicher Intrigen von Leuten mit vornehmen Nachnamen, die clevere Deals einfädelten und wussten, wo es etwas zu holen gab; und schließlich entsprechend viel Kohle. Er strebte immer noch nach Gerechtigkeit, aber Gerechtigkeit wurde immer mehr zu einem Pseudonym, einem Alias von François Shade, ehemals wohnhaft in der Lafitte Street, neuerdings in der Wynham Lane.
»Okay«, sagte Shade. »Dann lass uns mal Klartext reden. Was springt für dich dabei raus?«
Ihre Blicke begegneten sich, und auf keinem der beiden Gesichter war Scham
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