Im Süden: Die Bayou-Trilogie (German Edition)
einem permanenten Fließen, Platschen, Quaken und Krächzen bestand, musste pausenlos dechiffriert werden. Waren das Schritte? Ein Husten? Der Wind? Ein Gewehrkolben, der gleich auf Shades Hinterkopf landen würde?
An manchen Stellen wurden die Sumpflöcher so tief, dass Shade zur nächsten Dreckinsel paddeln musste wie ein Hund. Er versuchte, wenigstens seine Pistole einigermaßen trocken zu halten, aber irgendwie spielte das auch keine Rolle mehr.
Nach einer Weile hörte er ein leises Klopfen, ein regelmäßiges dumpfes Pochen, ohne klaren Rhythmus. Er folgte dem Geräusch, konnte aber erst erkennen, was es war, als er es schon beinahe berührte.
Ein treibendes Boot. Das bedeutete, dass mindestens zwei Menschen hier irgendwo herumschlichen.
Shade machte einen Klimmzug am Bootsrand, um hineinsehen zu können. Nur ein zerbrochenes Ruder und eine leere Kaffeekanne. Er hatte erwartet, einen Menschen darin liegen zu sehen, und war nicht hundertprozentig erleichtert, dass dem nicht so war.
Als er sich wieder ins Wasser gleiten ließ, fiel ihm etwas ein. Dabei hatte er gehofft, es längst vergessen zu haben. Es war einer jener sanften Sommerabende gewesen, an denen die ganze Welt einen süßen Duft verströmte, vor allem, wenn man sechzehn ist und das Leben noch wenige Narben hinterlassen hat. Shade hatte sich magisch sorglos gefühlt, wie er so vor De Geeres Skelly Station gestanden hatte, dem nächstgelegenen Laden, in dem man rote Cream Soda bekam. In der Hand hatte er ein paar Kronkorken gehalten, die er wie winzige fliegende Untertassen über die vorbeifahrenden Autos hatte sausen lassen. An diesem Abend hatte er geglaubt, niemand würde sich an einem so harmlosen Vergnügen stören, selbst als die Deckel mit ihren gezackten Rändern haarscharf über das Dach eines nagelneuen Impala segelten. Deshalb hatte er den Wagen, der plötzlich am Bordstein bremste, erst in dem Moment bemerkt, in dem ein Kleiderschrank von einem Mann herausstürzte. Zu spät, um sich hinter der Ladentür zu verstecken. Der Mann war um die dreißig gewesen, mit hochgezogenen, breiten Schultern und einem Gesicht, in dem zu lesen war, dass er gern mit vielen Leuten abgerechnet hätte, es aber nicht konnte, und dass die Vorsehung ihm jetzt endlich ein geeignetes Opfer geschickt hatte. Als er sich dem jungen Shade näherte, hatten seine Wangen gezuckt. »Willst du dich mit mir anlegen?«, hatte er gefragt. »Dir werd ich’s zeigen.«
Shade war sprachlos vor Schreck gewesen. Ungläubig lächelnd hatte er dagestanden, die Soda und die restlichen Flaschendeckel in der Hand. »Was ist denn los?«
»Gar nichts.« Eine Faust war vorgeschnellt, und Shades Kopf war in den Nacken geflogen. Er hatte Sterne und Blitze gesehen, war umgefallen und auf Händen und Knien übers Pflaster gerutscht. Eine Fußspitze hatte ihn am Hintern erwischt, was viel schlimmer schmerzte, als er sich hätte vorstellen können. Aber er hatte sich hochgerappelt und dem Mann mit der Limonadenflasche einen Schlag auf den Ellbogen und einen weiteren aufs Ohr versetzt, der den Koloss zu Boden geschickt hatte. Dann war Shade zitternd über dem Mann gestanden und hatte nicht gewusst, was er tun sollte. Schließlich hatte er sich hinuntergebeugt, ihm die großen Schneidezähne eingeschlagen, und dann noch mal auf die nun leere Stelle eingedroschen, dass Blut und weiße Zahnsplitter nur so spritzten.
Der alte De Geere mit den müden Augen war aus dem Sandsteingebäude gerannt. »Hau bloß ab!«, hatte er geschrien, und als Shade ihn verständnislos anglotzte, hatte er hinzugefügt: »Siehst du nicht, was du angerichtet hast? Du hast den Mann umgebracht, du Idiot. Du dämlicher Frogtown-Trottel!«
Zwei Tage lang war er benommen und wie elektrisiert herumgelaufen und war der Meinung gewesen, dass er tatsächlich einen Mann getötet hatte und sein Leben vorbei war.
Zwar stimmte das nicht, und sein Leben war auch nicht vorbei gewesen, aber von da an hatte sich für ihn alles verändert.
Ich muss die Sache wohl oder übel aussitzen, dachte Jewel. Auf einer Seite sah er einen Baum ohne Blätter, vom vielen Wasser eingegangen. Der Baum erhob sich, tot wie er war, mitten zwischen den lebendigen, ein höhnischer Zeigefinger aus dem Jenseits.
Warum starb einer an dem, was die anderen gedeihen ließ?
Mitten in seinen Grübeleien über diese und noch andere wichtige Fragen – beispielsweise, ob es sein Leben schwerwiegend verändert hatte, dass seine Lehrerin in der fünften Klasse nur
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