Im Tal der Mangobäume
gewöhnt, reagierte er nun nur langsam. Vielleicht sogar neugierig. Warum nicht mit ihnen reden? Wer waren sie? Von welchem Stamm kamen sie? Die meisten der ihm bekannten Familien waren Kamilaroi. Aus der Nation der Kamilaroi, wie ihre Ältesten zu sagen pflegten.
Sein Pferd hatte die Dringlichkeit in Lenas Stimme herausgehört. Oder vielleicht hatte es die Witterung der drei fremden Männer aufgenommen, doch als Harry es wenden wollte, sprang es zunächst seitwärts und stürmte dann an Lenas disziplinierterem Pferd vorbei nach vorn.
Harry schaffte es, es ein paar Meter vor Lena wieder zu zügeln, aber als er sich zu ihr umwandte, um mit ihr zu sprechen, hörte er den dumpfen Aufschlag. Hörte ihn, bevor er den Speer sah, der sich in ihren Rücken gebohrt hatte und sie aus dem Sattel hob. Langsam glitt sie hinunter, mit weit offenem Mund, als ob der Schrei, den sie auszustoßen versucht hatte, sich nicht mehr in ein Geräusch hatte verwandeln dürfen.
Harry war es, der schrie. Er sprang von seinem Pferd und versuchte, sie aufzufangen, mit diesem kräftigen Speer, der über ihnen schwankte, und sie auf den Boden zu legen … aber wie? Auf die Seite? Verängstigt und zitternd versuchte er, zu einer Entscheidung zu kommen. Fragte sie, Lena, was er tun solle. Dem Tod war er schon zuvor begegnet. Tod durch Unfälle, Schlangenbisse. Einmal hatte er einen Ertrunkenen aus dem Wasser gezogen, aber dies … der Speer? Sollte er ihn herausziehen? Würde sie das retten? Würde er ihr damit weitere Qualen bereiten? Er hatte schon zuvor Speere zu Gesicht bekommen. Manche davon hatten gezackte Spitzen. Würde er sie damit nur noch mehr verletzen, wie zackige Fischhaken es taten?
Sie bewegte ihren Arm, als wolle sie an das fürchterliche Ding, das in ihr steckte, herankommen und flüsterte: »Hilf mir. Zieh es raus!«
Er legte seine Hand fest auf ihren blutigen Rücken und ergriff den glatten Speer. Er spürte, wie Lena die Zähne zusammenbiss, sah, wie sie bei seinem Versuch, den Speer behutsam herauszuziehen, die Stirn furchte und die Augen zusammenpresste. Allmählich wurde eine blutige Steinspitze sichtbar, doch dann gab ihr Körper auf. Gerade als der Speer unbeschädigt herauskam, sackte Lena zusammen. Ihr Gesicht glättete sich unvermittelt. Als sei sie erleichtert, dass es vorbei war, stieß sie einen lauten Seufzer aus und schloss die Augen.
Harry warf den Speer fort, riss ein Stück Stoff von ihrer Bluse, knüllte es zusammen und drückte es auf die Wunde. Dabei redete er auf sie ein, ununterbrochen, bis ihm auffiel, dass Lena still war. Zu still. In ihr pulsierte kein Leben mehr. Sie lag in dem Rispengras. Es strich sanft über ihr Gesicht, zärtlich …
Er wirbelte herum, erinnerte sich an die Angreifer, erinnerte sich daran, dass einer von ihnen diesen Speer geworfen hatte, und fing an, sie anzuschreien, sie wegen dieser entsetzlichen Tat zu beschimpfen, dieser unnötigen, blutigen Abscheulichkeit, die sie begangen hatten, und rief sie verrückterweise um Hilfe an.
Aber er erhielt keine Antwort. Die Aborigines waren nirgends mehr zu sehen. Er blieb hocken und beobachtete Lena. Wartete. Hatte Angst, sie aufzuschrecken. Sie sah so friedlich aus.
Helle Wolken trieben auf den Bergrücken zu. Ein Waran stolzierte über die Lichtung, und die Pferde wurden unruhig. Ein Würgervogel gab versuchsweise ein paar Töne von sich und erfüllte die Luft dann mit Melodien. Sein Lied erinnerte Harry an die Flöte, die Totties Mutter immer gespielt hatte.
Er schüttelte den Kopf. Wie konnte er jetzt an Tottie denken! Er musste sich um Lena kümmern.
Es kam ihm respektlos vor, sie wie ein Bündel auf das Pferd zu hieven, folglich ergriff er einfach die Zügel, nahm Lena hoch, so gut es ging, und trug sie selbst. Sie war wesentlich schwerer als gedacht, aber er konnte es nicht über sich bringen, sie allein zurückzulassen, während er Hilfe holte.
Im Lager hörte Jacky ihn rufen. »Was war das?«, fragte sie.
Keiner sonst hatte da draußen in dem wilden offenen Land etwas gehört, nicht einmal das Plätschern des träge dahinfließenden Flusses.
»Das hast du dir eingebildet«, sagte der Boss zu dem kleinen schwarzen »Jungen«.
Aber Jacky war sich sicher. Sie hatte jemanden gehört, und in ihrem Kopf hallte das Schreien immer noch nach. Sie machte sich in die Richtung des Geräusches auf, ihre bloßen Füße glitten über die seidige rote Erde, folgten seinem Ursprung so sicher, wie man einer Kräuselung in einem Teich
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