Im Tal der Schmetterlinge
nicht?«
»Ich konnte seine Reaktion nicht abschätzen. Ich habe niemandem von uns erzählt, nicht einmal Val, auch wenn sie damals so ihre Vermutungen hatte. Wahrscheinlich hat das gesamte Tal etwas geahnt. Aber du hast immer noch mit Lillian zusammengewohnt. Ich wusste nicht, wie sich die Sache zwischen uns entwickeln würde. Und dann habe ich das Baby verloren, und Lillian wurde schwanger, und ich habe dich verloren und wollte nicht darüber reden. Mit niemandem.«
»Es tut mir unendlich leid, Katrine. Ich hatte doch so oft vor, dich anzurufen, nachdem du nach Vancouver gezogen bist. Ich musste bei Lillian bleiben, auch wenn das nicht das war, was ich wollte.«
»Du musst es mir nicht noch mal erklären.« Ich starrte auf mein Glas. »Ich habe eben von Mom und Dad erfahren, dass du und Lillian euch getrennt habt. Es muss schwer sein, gleich beide zu verlieren.«
»Zweimal im Monat fahre ich hoch, um Andy zu sehen. Ich würde öfter fahren, aber das kann ich mir nicht leisten. Ich telefoniere fast täglich mit ihm.« Er fuhr mit dem Daumennagel einen Riss im Tisch nach. »Val hat mir einiges erzählt, über Ezra und all die Dinge, um die du dich nach dem Schlaganfall gekümmert hast.«
»Es geht ihm jetzt viel besser.«
Jude blickte auf. »Er ist also nicht vollständig genesen?«
»Er wird für den Rest seines Lebens mit ein paar Handicaps leben müssen. Ich bezweifle, dass er jemals wieder unterrichten kann.«
»Dein Dad meinte, Ezra hat Schwierigkeiten, einen Job zu behalten.«
»Er ist vergesslich und hat Probleme, Neues zu erlernen. Oft verzettelt er sich in vollkommen unwichtigen Dingen - jetzt gerade schneidet er zum Beispiel Bäume zurück -, und die wichtigen Sachen bleiben unerledigt. Nicht viele Arbeitgeber lassen sich das gefallen.«
An dem Tag, als Ezra seinen letzten Job verloren hatte - Kühe melken -, legte er die Strecke zwischen dem Pick-up und der Garage, wo ich ihn auf der Treppe erwartete, langsam und schlurfend zurück, blieb auf der Stufe unter mir stehen und drückte den Kopf zwischen meine Brüste. Seine Arme baumelten schlaff an den Seiten herab, seine Schultern bebten, während er schluchzte. Der Geruch von Milch hing in der Luft. »Sie haben mich rausgeschmissen«, jammerte er. »Ron sagt, ich brauche zu lang und stolpere zu oft. Ich krieg nicht mal mehr einen Scheißaushilfsjob richtig hin.«
Er hatte schon als vierzehnjähriger Junge auf dem Milchhof seines Vaters Kühe gemolken, hatte die Schicht um vier Uhr morgens im Halbschlaf hinter sich gebracht und kannte die Arbeit in- und auswendig. Und hasste sie.
»Ich will mich nicht beschweren«, sagte ich zu Jude. »Wir hatten großes Glück. Gleich nach Ezras Schlaganfall prophezeite mir sein Arzt, dass er wahrscheinlich nie wieder sprechen könnte, falls er überhaupt überleben sollte. Eine der Krankenschwestern gab uns den Ratschlag, Gebärdensprache zu lernen. Stell dir das vor: Wir beide, die ausgezeichnet hören, müssen Zeichensprache benutzen!«
»Wie mein Onkel nach seinem Schlaganfall«, erklärte Jude. »Alles, was er noch sagen konnte, war Fuck und Apple Jacks .«
»Apple Jacks?«
»Sein Lieblingsmüsli. Dabei führte er seine Firma noch jahrelang mit diesen wenigen Worten - und mit Hilfe seiner Söhne. Sie lernten, die Worte zu interpretieren. Eine kleine Änderung der Sprachmelodie reichte, um Fuck und Apple Jacks so ziemlich alles bedeuten zu lassen.« Als ich lachte, fügte er hinzu: »Es gibt unzählige Möglichkeiten, eine Botschaft zu übermitteln. Ich habe dir doch mal von meiner Reise auf die Kanarischen Inseln erzählt …«
Ich nickte. Verschwommene Erinnerungen drängten an die Oberfläche.
»Dort gibt es ein Volk, das eine Sprache des Pfeifens besitzt, damit sie auch über weite Täler hinweg kommunizieren können. Ihr Pfeifen gleicht den Liedern eines Sumpfschwalbenschwarms.«
»Das ist jetzt aber eine deiner Lügengeschichten, nicht wahr?«, sagte ich. »Ein pfeifendes Volk auf den Kanarischen Inseln!«
»Es ist die Wahrheit!« Nachdem unser Lächeln verflogen war, hielt Jude weiterhin meinen Blick gefangen.
»Küssen!«, rief Jeremy aus Andys Zimmer.
Jude grinste. »Anscheinend hat er uns belauscht.«
»Und was gehört?«
»Andy hat in dem Alter auch immer gewusst, was ich denke.«
Ich errötete und schüttelte den Kopf. »Jeremy hat meine Gedanken nicht gelesen.«
»Dann waren es wohl meine.«
Ich lehnte mich im Stuhl zurück. »Du hast eine Kiste für mich.«
»Sie steht dort,
Weitere Kostenlose Bücher