Im Tal der Schmetterlinge
auf dem Couchtisch. Es sind wohl vor allem Postkarten und Briefe aus unserer gemeinsamen Zeit. Keine Sorge. Ich habe nicht herumgeschnüffelt. Als ich gemerkt habe, dass sie dir gehören, habe ich die Kiste sofort wieder zugemacht.«
»Ich weiß nicht recht, ob ich die Sachen sehen will. Ich werde vielleicht später einen Blick hineinwerfen, wenn ich allein bin.«
Er klatschte in die Hände. »Na schön, soll ich Jeremy meine Werkstatt zeigen? Ihn an die Töpferscheibe setzen? Kinder lieben eine solche Sauerei.«
»Nein, wir müssen gehen.«
»Jetzt schon?«
»Mom hat vorhin das Mittagessen auf den Herd gestellt.« Ich erhob mich. »Ich helfe Jeremy noch rasch, das Lego aufzuräumen.«
»Das kann ich später machen.«
Ich holte die Kiste vom Couchtisch. »Jeremy!«, rief ich. »Wir müssen los.«
»Ich will aber nicht.«
»Auf der Stelle, Liebling!«
»Okay, okay!«
Jeremy kam mit einem Turm aus Legosteinen in der Hand herein. »Das bleibt hier«, ermahnte ich ihn, und er schlurfte mit hängenden Schultern in Andys Zimmer zurück.
Während Jude und ich warteten, blickten wir aus dem Fenster zu Valentines unfertigem Haus. Eine der Kühe meiner Eltern stand dort an der Vordertür, wie ein Urlaubsgast, der herausgekommen war, um die Aussicht zu genießen.
»Es war doch Gus’ Onkel, der mit dem Bau des Hauses begonnen hat, oder?«, erkundigte sich Jude. »Ja, so muss es gewesen sein. Wurde ihm damals das Grundstück nicht einfach zugewiesen?«
»Ja. Valentine hat mit dem Hausbau begonnen, als er sich mit Mary Peterson verlobte. Erinnerst du dich an die alte Mrs. Samuels? Mary Samuels?«
Er schüttelte den Kopf. Als ich noch klein war, hatte ich mit meiner Mutter einmal Mrs. Samuels einen Besuch abgestattet. Sie hatte mir Ingwerkekse angeboten und mir ihre Harfenzither zum Spielen gegeben. Plötzlich erinnerte ich mich wieder an das Gewicht der Harfe auf meinem Schoß, das Plektrum in meinen Fingern, das berauschende Gefühl, als die Saiten anschlugen.
»Anscheinend hat sie die Verlobung mit Valentine gelöst und Charlie Samuels geheiratet, und das war’s dann. Mein Großonkel stellte die Arbeit am Haus ein. Vermutlich hätte er das Projekt zu Ende geführt, hätte er jemand Neues gefunden, der mit ihm dort eingezogen wäre. Aber er gehörte zu der Sorte Mann, die zum Glücklichsein nicht viel brauchen. Er war zufrieden mit seiner Arbeit und konnte gut allein sein. Wie mein Vater. Und wie du.«
Jude grinste.
»Gestern Abend habe ich einen Zeitungsausschnitt gefunden, in dem stand, dass Valentine die Suche nach meinem Großvater angeführt hat, als dieser verschwunden ist«, fuhr ich fort. »Mom und Dad haben nie mit dir darüber gesprochen, oder?«
»Nein. Nie.«
»Der Artikel steckte in der Geldbörse meiner Großmutter und war um ein Foto meines Großonkels gewickelt.«
»Aha! Da muss es doch eine Geschichte dahinter geben. Du wirst natürlich darüber schreiben.«
»Ich weiß nicht.« Seit Ezras Schlaganfall vor sechs Jahren hatte ich an keinem Roman mehr gearbeitet. Mir fehlte einfach die Zeit und die nötige Energie. Stattdessen schrieb ich - sobald ich eine freie Minute erübrigen konnte - meine Ideen in das Notizbuch, das ich stets in meiner Tasche bei mir trug. Wenn ein Notizbuch voll war, packte ich es zu den anderen in eine Schuhschachtel in meinem Schrank und hoffte, irgendwann einmal auf diesen Schatz zurückgreifen zu können, aus dem sich dann ein Roman herauskristallisieren würde.
»Jeremy!«, rief ich. »Nun komm schon. Wir müssen los.«
»Wann fährst du zurück nach Alberta? Ich würde dich gern wiedersehen.«
»Das kommt aufs Feuer an.«
»Würde es dir was ausmachen, wenn ich auf eine Tasse Tee bei euch vorbeischauen würde?«
»Es wäre mir unangenehm«, sagte ich, »wegen Ezra.«
Er nickte. »Dann bring Jeremy rüber, damit er die Werkstatt sieht. Ich könnte ihm zeigen, wie man etwas auf der Scheibe töpfert.«
»Ich weiß nicht, ob ich die Zeit finde.«
»Versuch es einzurichten.«
Als Jeremy und ich über das Feld zurückspazierten, kam uns Ezra auf dem Pfad entgegen und hielt etwas in Händen, das auf den ersten Blick wie zwei olivgrüne Teller aussah, wobei einer umgedreht war, um den anderen warm zu halten. »Was macht denn dein Daddy da?«, fragte ich lachend.
Es war eine Zierschildkröte, die ihren Kopf und die Beine in den Panzer eingezogen hatte. Das Tier war ausgewachsen, etwa fünfundzwanzig Zentimeter lang und hatte die typisch leuchtend roten
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