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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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schwer das für ihn sein muss.«
    Ich bog in den Gang mit den Backwaren, und meine Mutter nahm ein kleines Päckchen Weizenmehl aus dem Regal, weil sie meinem Vater einen Kuchen backen wollte. »Wie dem
auch sei, in ein oder zwei Jahren wird das alles nicht mehr so schlimm erscheinen«, sagte sie. »Meine Mutter behauptete immer, dass Zeit einem großen Mehlsieb gleicht.«
    »Einem Mehlsieb?« Ich rief mir das Mehlsieb meiner Großmutter ins Gedächtnis, das meine Mutter noch immer benutzte und bei dem sie durch das Drücken des Handgriffs einen Sieb-Mechanismus im Boden betätigte.
    »Man siebt das Mehl nicht nur deshalb, um Klumpen und Schmutz zu entfernen«, sagte meine Mutter, »sondern auch, um das Mehl aufzulockern, damit man es genau wiegen kann. Wenn man ungesiebtes Mehl wiegt, bekommt man zwangsläufig einen pappigen Kuchen. Meine Mutter meinte immer, dass die Zeit genauso arbeitet: Sie siebt nicht nur die Klumpen aus - also zieht den Stachel aus den schmerzhaften Geschehnissen -, sondern ermöglicht einem, die Ereignisse richtig abzuwägen, sie aus einer anderen Perspektive zu sehen.«
    »Mir geht aber der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass womöglich nicht immer alles in Streit ausarten würde, wenn ich die Dinge anders angehen und Ezra anders behandeln würde.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Einmal brachten meine Mutter und ich meinem Vater Tee und Gebäck. Er hob gerade einen Brunnen in der Nähe des Pappelwäldchens aus, an einer weiteren Stelle, an der er meiner Mutter ein Haus bauen wollte. Als er aus dem Loch kletterte, war er aschfahl und zitterte am ganzen Körper, wollte aber nicht mit Graben aufhören. ›Du solltest dir eine Pause gönnen‹, sagte meine Mutter, genau wie du es Ezra eben geraten hast. Das war alles, was sie sagte. Doch er schrie sie an. ›Du willst doch überhaupt nicht, dass ich fertig werde‹, warf er ihr vor. ›Du willst, dass ich vor den Nachbarn schlecht dastehe, nur damit sich bewahrheitet, was du die ganze Zeit über mich behauptest, nämlich dass ich
das Haus nie bauen werde. Du denkst, ich bin ein Nichtsnutz.‹ Das hätte sie natürlich nie laut gesagt, selbst wenn sie es heimlich gedacht hätte. Während ich neben ihr im Gras Wildblumen pflückte, versicherte sie ihm, sie sei überzeugt, er würde das Haus fertigstellen, und sie liebe ihn dafür, wobei sie den beruhigenden Tonfall einer Mutter annahm, deren Kind einen Wutausbruch hat.«
    Ich konnte meine Großeltern vor meinem inneren Auge sehen, wie sie in weiter Ferne beim Streiten wild mit den Händen gestikulierten. Die Hände meines Großvaters waren zusammengeballte Felsvorsprünge und die meiner Großmutter zuerst Bäume, flehend ausgestreckt, dann zwei Tabletts, die Handflächen nach oben gedreht, als würden sie ihm etwas bringen. Mein Großvater nahm ihre beiden Hände in seine, und in diesen andächtigen Händen schien meine gesamte Zukunft zu liegen. Diese so rauen Hände, die sich verzweifelt an meine Großmutter klammerten, waren die Hände eines Ertrinkenden.
    »Was war los mit ihm?«, wollte ich wissen.
    Sie schwieg einen Moment und sagte dann: »Bei ihm lag viel im Argen.«
    »Daddy!«, rief Jeremy, und wir drehten uns beide um.
    Ezra stand zwischen Kisten, in denen grüne Paprikaschoten und Bananen gestapelt lagen, war gefangen vor einer Kreuzung zweier Gänge, an der ein Mann einen Wasserbehälter auffüllte. Der Mann versperrte den Gang zu den Milchprodukten, wobei er einen Stau verursachte, und Ezra, von Unentschlossenheit ergriffen, gelang es nicht, seinen Einkaufswagen an den anderen Kunden vorbeizusteuern. Frauen mit Kindern in Buggys und alte Männer mit Einkaufskörben am Arm überrundeten ihn. Ich hob Jeremy auf meine Hüfte, ließ den Wagen bei meiner Mutter stehen und schlängelte
mich durch die Menschenmenge, um hinter Ezra wieder aufzutauchen. »Warum gehst du nicht weiter?«, fragte ich ihn.
    »Geh, geh, geh!«, sagte Jeremy.
    »Ich warte darauf, dass mir die anderen Reisenden aus dem Weg gehen.«
    »Dann wirst du nie vorwärtskommen. Sag einfach Entschuldigung und geh an den Leuten vorbei.« Ich demonstrierte es ihm mit Jeremy in den Armen. Doch Ezra folgte meinem Beispiel nicht. Er stand wie angewurzelt da und beobachtete die anderen Kunden, die ihn überholten. Bombardiert von dem schrecklichen Durcheinander im Supermarkt und völlig verwirrt, wandte Ezra den Kopf zu jeder Geräuschquelle. Meine Verärgerung schlug in Resignation um, und ich übernahm die Führung bei dem Tanz, der

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