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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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entlassen - damals noch nicht diagnostizierte Kriegsneurose . Kriegsneurosen waren eine neumodische Krankheit. Die Leute hatten damals keine Ahnung.«
    Ich las laut vor: » Zögerliches Sprechen. Deutlicher Tremor der Hände. Starkes Zittern bei Gesprächen mit Fremden. Sehr schlechte Gedächtnisfähigkeit, was nicht lange zurückliegende Ereignisse betrifft .«
    »Während eines Jahres hat er verschiedene Krankenhäuser durchlaufen«, sagte Val. »Hier heißt es, er war in Victoria, dann in Kamloops.«

    »Warum sollten sie ihn den ganzen Weg nach British Columbia bringen?«, fragte ich verwundert. »Er war doch britischer Staatsbürger.«
    »Er hatte schon lange vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in B.C. gewohnt und sich freiwillig zur kanadischen Armee gemeldet. Sie haben ihn nach Hause geschickt.« Val reichte mir ein weiteres Blatt Papier. »Sieh dir das an. Grund der Invalidität: Gehirnerschütterung durch Granatenbeschuss - begraben . Der Mann wurde lebendig begraben, und das ist alles, was sie dazu zu sagen haben.«
    »Er wurde lebendig begraben?«
    »Anscheinend ist eine Granate neben ihm eingeschlagen und hat ihn in einem Schützengraben verschüttet, während eine zweite Granate ihn dann rettete und wieder freisprengte. Allerdings trafen ihn dabei Granatsplitter. Ich erinnere mich, wie Grandpa und Grandma in meiner Kindheit darüber redeten. Vermutlich war er einer von Tausenden, Hunderttausenden, die auf diese Art verletzt wurden.«
    »Oder starben.«
    »Er hatte eine Metallplatte im Kopf, und zwar an der Stelle des Schädels, die durch die zweite Explosion zertrümmert worden war.«
    Ich sah zu Val auf. »Er hatte eine Gehirnverletzung?«
    »Ja. Und eine Kriegsneurose. Wie dem auch sei, er war verrückt.« Sie hob den Rasierer hoch und starrte ihn eine Zeitlang an, bevor sie ihn zusammen mit den Medaillen und der Brille zurück in den Briefumschlag stopfte und diesen dann verschloss. »Ein Kind sollte traurig sein, wenn sein Großvater stirbt«, sagte sie. »Aber als er im Gebirge verschwand, freute ich mich einfach, dass er fort war.«
    »Er ist im Gebirge gestorben?«
    »Sein Leichnam wurde nie gefunden.«

    »Mom behauptete, er sei an einem Herzinfarkt gestorben.«
    »Wie schon gesagt, sie wird von Tag zu Tag vergesslicher.«
    »Dad hat sie nicht berichtigt.«
    »Wahrscheinlich hat er nicht richtig hingehört.«
    »Es war die Geschichte, die sie mir immer erzählt hat«, sagte ich. »Warum sollte sie lügen? Warum habt weder du noch Dad mir je davon erzählt?«
    Val legte den Briefumschlag auf den Tisch. »Es war ja nicht so, als hätten wir dir etwas verschwiegen. Es war nur von Anfang an klar, dass Mom es sehr ungern sah, wenn einer von uns das Thema anschnitt. Die Sache mit Grandpas Verschwinden stand in jeder Zeitung. Und natürlich haben die Nachbarn all die Geschichten über Grandpa hervorgekramt und gesagt, was für ein verrückter Mistkerl er gewesen ist. Ich musste mir viel dummes Zeug in der Schule anhören. Nachdem alles vorüber war, wollte Mom die Sache wohl aus ihrem Gedächtnis streichen. Ich jedenfalls habe es getan.«
    Ich nahm das Foto meines Großvaters zur Hand und starrte eine Weile darauf.
    »Ich sollte nach Hause fahren und ein wenig schlafen«, sagte Val. »Wir müssen morgen viel erledigen, bevor wir Dad hierherbringen können.« Sie ging zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um. »Du solltest Mom und Dad mit den alten Geschichten nicht belästigen. Sie haben jetzt genügend andere Sorgen.«
    Ich beobachtete vom Fenster, wie Val in ihren Pick-up stieg und den Motor anließ. Die Scheinwerfer des Wagens zeichneten zwei helle Pfade durch die neblige Nacht auf die Straße.
    Jenseits des Feldes, in Judes Arbeitsschuppen, schossen Flammen hoch, als er glühende Töpfe und Vasen mit einer Zange aus dem Brennofen holte und sie in die metallenen
Mülltonnen legte, die mit Zeitungspapier gefüllt waren. Die Keramikgefäße entzündeten die Zeitungen, noch bevor Jude den Deckel auf die Tonne werfen konnte, um das Feuer durch Sauerstoffentzug zu löschen. Dieser Prozess wird Reduktionseffekt genannt, der zusammen mit dem Raku-Brand für das herrliche Rot, Purpur, Blau, Metallic, Schwarz und außerdem für das typische Netz von Glasurrissen auf den Gefäßen sorgt. Doch ein einziger dieser brennenden Zeitungsschnipsel hätte ausgereicht, um das trockene Gras der umliegenden Felder in Brand zu setzen. Ich stand am Fenster und beobachtete Jude eine Weile, der in einem wohlvertrauten

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