Im Tal der Schmetterlinge
denen ein Satz unterstrichen war: Ihr werdet zusammen sein, wenn die weißen Flügel des Todes eure Tage scheiden . In
dem Briefumschlag lag eine zerknitterte Adventskalenderkarte von der Schwester meiner Großmutter, geschrieben am 6. April 1932:
Liebste Maud,
anbei ein Teddybär, um den zu ersetzen, den John weggeworfen hat. Ich mag mir nicht vorstellen, wie ein Vater zu solch einer Tat fähig ist. Vielleicht kann der kleine Kerl nun zumindest auf deine Schätze aufpassen. Wenn es dir irgendwann einmal möglich ist, meine liebe Schwester, musst du mir erklären, warum du bei ihm bleibst! Ich möchte nicht respektlos erscheinen, aber ich habe große Angst. Ich sorge mich um dein Wohlergehen und das deiner süßen Tochter und deines Sohnes. Wir alle haben unsere Gründe, weswegen wir manche Dinge tun. Ich will dich nur verstehen. Wie dem auch sei, ich hoffe, dich trifft mein Geschenk bei bester Gesundheit an, und ich hoffe, dass die kleine Elizabeth Ann ihren neuen Teddy schon bald ins Herz geschlossen hat.
Deine dich liebende Schwester Sara
Ich klappte die Karte meiner Großtante zu, auf der ein in Grün und nicht Rot gekleideter Weihnachtsmann neben einem Weihnachtsbaum stand, der mit unzähligen Kerzen geschmückt war. Winzige nummerierte Türen bedeckten die gesamte Karte. Sobald man eine Klappe öffnete, kam darunter ein Bild zum Vorschein - ein Rentier, ein Soldat, ein Horn, ein Kreisel -, eines für jeden Tag im Dezember bis Weihnachten. Warum nur legte Sara meiner Großmutter nahe, ihren Ehemann zu verlassen? Die Krankheit meines Großvaters bedeutete sicher eine schwere Last, aber es wäre mir nie eingefallen,
dass eine Frau in der damaligen Zeit ihren kranken Mann verlassen hätte. Und noch dazu mit zwei kleinen Kindern, um die sie sich kümmern musste. Wohin hätte sie gehen und was hätte sie tun können? Und dennoch hielt ich hier die Karte ihrer Schwester in Händen, einer Frau aus genau dieser Epoche, die eine andere Meinung vertrat, die glaubte, meine Großmutter habe eine Wahl gehabt. Ich öffnete die Puderdose und sah in den Spiegel. Hatte Maude mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verlassen?
Etwas Süßes, ich brauchte unbedingt etwas Süßes. Ich durchwühlte die Vorräte meiner Mutter. Eine gelbe Dose Colman’s Senf. Heinz-Brotaufstrich. Marmite. Bird’s Vanillesauce. Ich schob die Konservenbüchsen zur Seite und fand ein Päckchen braunen Zucker. Genau das wollte ich: Fudge, klebriges Karamell aus braunem Zucker. Auf der Suche nach dem Rezept riss ich das Kochbuch meiner Großmutter vom Kühlschrank und fand die Seite mit dem Fuchsschmetterling, den sie zwischen den Seiten gepresst hatte und dessen Flügel ausgefranst und zerrissen waren. Für das Rezept benötigte man:
2 Tassen braunen Zucker
½ Tasse Crème double
1 ½ Teelöffel Vanille
4 Esslöffel Butter
1 ½ Tassen Walnüsse oder Pecannüsse
Ich fettete eine Pfanne bis zum Rand ein, damit die Karamellmasse beim Kochen nicht anbrannte, gab Zucker und die Crème double hinzu und verrührte alles mit einem Holzlöffel, bis sich der Zucker auflöste. Das Herstellen von Fudge ist eine heikle Angelegenheit. Ich machte mir nie die Mühe, es an
einem Regentag zu versuchen, da das Karamell die Feuchtigkeit einfach aufgesaugt und seine eigene Konsistenz zerstört hätte. Doch selbst an einem heißen, trockenen Tag wie diesem konnte ich nie vorhersagen, ob mir der Fudge gelingen würde, und ich fand die Arbeit oft frustrierend. Trotzdem, auf eine fast perverse Art und Weise, überkam mich manchmal ein heftiges Verlangen, das süße Karamell herzustellen und zu essen. Der letzte Akt war dann eine reine Instinkthandlung. Ich aß hastig, gedankenlos, und am Ende schaute ich auf den leeren Teller und dachte erschrocken: Wann habe ich all das gegessen? Während dieser Mahlzeiten war ich nicht anwesend, obwohl mein Körper zugegen war, nach dem Teller und der Gabel griff und meine Lieblingsgerichte verschlang, die Süßspeisen, die ich selbst zubereitet hatte, die gebratenen Hühnchen und Kräuterbaguettes, den grünen Salat aus unserem Garten, die gehäuteten Pfirsiche in ihrem eigenen Saft.
Als ich einmal in meiner Teenagerzeit mit meinem damaligen Freund spazieren ging, bückte ich mich und leckte Erde von meinen Fingern, wie ich es bei Rehen gesehen hatte, die den Boden am Straßenrand wegen des Salzes abschleckten. Auf unserer Farm aßen die Kühe Dreck, um sich die fehlenden Mineralien zu holen. »Warum tust du das?«, fragte mich
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