Im Tal der Schmetterlinge
Lyle.
»Keine Ahnung«, erwiderte ich und verbarg meine sonderbare Lust von diesem Tag an vor ihm und allen anderen. Als ich schließlich meinem Hausarzt von meinem zwanghaften Verhalten erzählte, stellte sich heraus, dass ich anämisch war. Ich aß die rote Erde der Blood Road, weil ich dünnes Blut hatte. Es war ein erschreckender Gedanke, dass mein Körper ein Eigenleben führte und mein Verstand nicht mehr Herr der Lage war, dass der animalische Nahrungsinstinkt die Oberhand über den eigenen Willen gewonnen hatte. Zuzusehen,
wie meine Hand sich bewegte, ohne ihr Einhalt gebieten zu können, so als würde sie von einem anderen Wesen gelenkt werden, selbst wenn dieses Wesen vernünftiger war und meine körperlichen Bedürfnisse besser verstand, war eine eigenartige Vorstellung. Jetzt gierte ich nach Fudge, zuckriger brauner Karamellmasse. Genau wie damals, als es mich nach Erde verlangte, um Eisen zu finden, war mein Körper nun ebenfalls auf der Suche. Wonach er sich nun sehnte, konnte ich nur schwach erahnen.
Jenseits des Feldes blitzte ein Licht auf, und ich löschte die Küchenlampe, um besser sehen zu können. Jude ließ in seiner Werkstatt die Leuchtstofflampe flackern. Sein Umriss zeichnete sich als dunkle Silhouette gegen die offene Tür ab. Er winkte mich zu sich herüber.
Ich schaltete die Deckenbeleuchtung wieder an, da mir schlagartig bewusst wurde, dass mich Jude in der Küche beobachtet hatte, und drehte die Herdplatte hoch, um die Karamellmasse zum Kochen zu bringen. Dann wartete ich ab, starrte aus dem Fenster zur Werkstatt hinüber, die die Nacht erleuchtete, und widerstand der Versuchung, den Fudge zu früh zu probieren. Ich hatte die Süßspeise schon öfters verdorben, indem ich sie vorzeitig vom Herd genommen hatte. Ich musste gegen meine Natur ankämpfen, Dinge vorantreiben zu wollen, im Großen wie im Kleinen. Ich hatte mich übereilt auf Ezra eingelassen, trotz der Einwände von Val und meinem Vater, die glaubten, dass alles viel zu schnell ging. Ich war gleich im ersten Monat, nachdem wir uns kennengelernt hatten, bei ihm eingezogen, und wir heirateten fünf Monate nach Beendigung meiner Affäre mit Jude, lange bevor sich meine Gefühle für ihn verflüchtigt hatten. Und vor Ezra hatte ich mich schon überstürzt auf Jude eingelassen und nicht wahrhaben wollen, dass er der Mann einer anderen Frau war.
Bis zu jenem Abend, als ich ihn auf dem Weg zur Tanzveranstaltung aus seinem Tor hatte kommen sehen, war er bloß ein flüchtiger Bekannter gewesen, der den prächtig geschnitzten, dick gepolsterten Sessel seiner Frau auf den Schultern trug, den Körper durch das Gewicht des Möbelstücks nach vorne gebeugt. Nur in diesem Sessel konnte Lillian bequem sitzen, und ich hatte Jude häufig beobachtet, wie er ihn für Veranstaltungen in der Gemeindehalle an der Farm meiner Eltern vorbeigeschleppt hatte. Er und Lillian fuhren einen Impala, und der Sessel passte nicht in den Wagen. Damals war er lediglich ein Nachbar gewesen, ein weiterer Künstler aus der Stadt, der sich für wenig Geld ein Grundstück im Turtle Valley gekauft und meinem jungen Dasein ein Rätsel aufgegeben hatte: ein gut aussehender Mann, der sich seiner schweren, behinderten Frau derart verbunden fühlte, dass er ihren Sessel fast eine Meile die Straße hinabtrug.
Ich zog die Handbremse des Chevrolets und beugte mich über den Beifahrersitz, um die Tür zu öffnen, nachdem er den Sessel auf die Ladefläche gehievt hatte. »Sollen wir jetzt Lillian abholen?«, fragte ich.
»Nein, sie ist bereits im Gemeindehaus. Sie hat den Impala genommen.«
Ich fuhr los. »Dein Sicherheitsgurt hängt dort an der Seite.«
»Ich schnall mich nie an.«
Ich zog die Augenbrauen hoch, doch er wich meinem Blick aus und starrte aus der Windschutzscheibe. Es war noch nicht einmal zehn Uhr und immer noch hell, obwohl die Sonne schon vor langer Zeit hinter den steilen Hängen des Tals untergegangen war. Die Pappeln, die die Straße säumten, raschelten, während der stürmische Wind Gewitterwolken in unsere Richtung blies. Petersons Pferde, die der aufkommende
Sturm nervös machte, galoppierten am Zaun entlang und hielten beinahe mit dem Pick-up Schritt.
»Kat ist wahrscheinlich die Abkürzung für Katherine.«
»Nein, Katrine. Ich mag es nicht, Kat genannt zu werden.«
»Aber deine Mom …«
»Jeder nennt mich Kat. Ich mag es bloß nicht.« Meine Mutter hatte mich Katrine getauft, um mir den Spitznamen Kat geben zu können, davon war ich
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