Im Tal der Sehnsucht
zu ihm und nahm ihm den Schmuck aus der Hand. „Ich muss sie zurückbringen … und zwar sofort.“
Robbie sprang auf. „Das kommt überhaupt nicht infrage! Ich muss endlich lernen, für mich selbst einzustehen. Ich gehe zu Boyd und beichte ihm alles. Er wird mich einen dummen Jungen nennen, mir tüchtig den Kopf waschen, aber dann eine Lösung finden.“
„Boyd? Auf keinen Fall. Wir dürfen ihn da nicht hineinziehen. Ich bringe den Schmuck zurück. Alle Gäste sind schlafen gegangen.“
„Und wenn Jinty ihn inzwischen holen wollte und gemerkt hat, dass er fort ist?“
Leona schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen. Wenn es so wäre, hätte sie das ganze Haus zusammengeschrien.“
„Ja, man hätte gegen die Türen gehämmert und alle aus dem Bett geholt.“ Robbie atmete etwas auf. „Lass mich gehen.“
„Und wenn du erwischt wirst? Nein, überlass das lieber mir.“
Leona huschte den Korridor entlang. Kein Mensch war zu sehen, nur die Ahnen auf den Porträts folgten ihr mit strengen Blicken. Auch die Treppe konnte sie unbemerkt hinuntereilen, es sei denn, unsichtbare Geister hatten sich an ihre Fersen geheftet. Es war totenstill.
Noch nie hatte sich Leona so gefürchtet. Ihre Hand umklammerte die Diamanten. Sie fühlten sich kalt wie Eiswürfel an. Die Kronleuchter waren ausgeschaltet, nur einige Wandlampen spendeten spärliches Licht. Leise wie eine Maus schlich sie weiter. Wenn sie nun jemandem begegnete? Etwa Rupert? Das würde sie nicht überleben. Rupert hatte den Ruf, immer im falschen Moment aufzutauchen. Wie sollte sie ihm erklären, warum sie noch einmal herunterkam? Um ein Buch aus der Bibliothek zu holen? Nein, das war zu fadenscheinig. Sie konnte vorgeben, selbst einen Ohrring verloren zu haben. Noch schlechter, denn sie trug die Ohrringe noch. Außerdem wäre es die größte Dummheit gewesen, den hellhörigen Rupert auf Ohrringe hinzuweisen.
Die Tür zum Salon war geschlossen. Leona blieb stehen und lauschte. Als alles ruhig blieb, öffnete sie die Tür, ging aber nicht weiter. Wie hatte Robbie etwas so Irrsinniges tun können? Diebstahl war ein Verbrechen, und er verdiente, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Sie sprach sich selbst Mut zu und wagte sich dann in den Salon. Auch hier spendeten noch einige Wandlampen Licht, und es blieb still. Armer Robbie. Arme Leona .Wie ein schwereloses Wesen schwebte sie vorwärts, auf dem weichen Teppich war kein Schritt zu hören. Aus unerfind lichen Gründen kam sie sich wie eine gemeine Diebin vor. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Jeden Moment konnten Jinty oder Rupert auftauchen, um sie dingfest zu machen. Sie musste sich beeilen.
Endlich hatte sie das vergoldete Schwanentischchen erreicht und streckte die Hand aus, um den Deckel von der Vase abzunehmen. Lieber Gott, hilf mir! Würde Gott einer Sünderin helfen, die doch nur versuchte, ihrem Bruder beizustehen?
„Leona?“, erklang es hinter ihr.
Sie fuhr zusammen. Diese Stimme kam nicht vom Himmel.
„Was machst du hier unten? Konntest du nicht schlafen?“
Tränen schossen ihr in die Augen, und ihr Atem stockte. Das Spiel war aus, die Demütigung vollkommen.
„Leona?“, wiederholte Boyd. „Geht es dir gut?“
Das klang besorgt, aber was sollte sie antworten? Nein, es geht mir nicht gut, und wird mir nie wieder gut gehen. Ausgeschlossen.
Sollte sie sich umdrehen, ihm die Diamanten entgegenhalten und frech sagen : Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und will sie jetzt zurückbringen?
Ja, das war eine Möglichkeit. Für Robbie wäre es das Ende gewesen, sie hingegen genoss Boyds Schutz. Er würde schockiert und entsetzt sein, aber er würde sie nicht ausliefern. Er war nicht Rupert. Boyd hatte ein großes Herz.
Als sie immer noch zögerte, verlor er die Geduld und kam näher. Leona spürte seine Hände auf ihren Schultern, dann wurde sie sanft, aber unaufhaltsam umgedreht.
„Sag mir, was los ist.“
Sie wandte sich ab. „Nichts.“
„Das glaube ich dir nicht.“ Er wollte ihre Hand nehmen, über die sie plötzlich keine Gewalt mehr hatte. Die Ohrgehänge entglitten ihren starren Fingern und fielen auf den kostbaren Aubusson-Teppich.
„Das kann nicht sein“, stöhnte Boyd und bückte sich, um sie aufzuheben.
Leona zitterte am ganzen Körper. „Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist …“
„Aber ich weiß es.“ Er führte sie zu einem Sessel. „Robbie steckt in Schwierigkeiten, nicht wahr? Hat er wirklich geglaubt, sie durch den Diebstahl der
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