Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
schier willenlos folgte.
32
G egen Abend, nach Stunden, in denen sich das kleine Abteil mit geradezu greifbaren Schwaden von Hitze gefüllt hatte, war der Zug weitergefahren. Anavera hatte geglaubt, sie ertrüge es nicht, auf ihrem Platz sitzen zu bleiben, während die Räder über den Toten hinwegrollten, bis von einem Menschenleib und einem Menschengesicht nichts mehr übrig war. Sanchez Torrijas Sohn, der den ganzen Tag über Eiswasser getrunken hatte, entkorkte jäh eine Flasche seines Weins und füllte zwei Gläser. Als er ihr eines reichte, sah sie, dass seine Hand so sehr zitterte wie ihre.
»Danke«, krächzte sie. Über das Rot des Weins hinweg hielten ihre Blicke sich aneinander fest, während sie starr saßen und das Rattern der Räder aushalten mussten. Sanchez Torrijas Sohn war so wenig menschlich, wie ein Mensch nur sein konnte. In diesen Augenblicken aber war sie froh, überhaupt einen Menschen bei sich zu haben.
Kurz darauf nahm der Zug Fahrt auf, und eine gute Stunde später rollten sie in Veracruz ein. Aus dem Fenster zu sehen, die Stadt zu begrüßen, in der ihre Mutter geboren war, blieb ihr verwehrt. Sanchez Torrijas Sohn bestand darauf, die Vorhänge geschlossen zu halten.
Was sollte sie tun, wenn sie den Bahnhof erreichten? Sie musste ihn dazu bewegen, mit dem nächsten Zug zurückzufahren. Fuhr heute Abend überhaupt noch einer? Sie fragte ihn danach.
»Heute Abend fährt überhaupt kein Zug mehr«, knurrte er. »Weder für Sie noch für mich.«
»Und morgen früh?«
»Morgen früh fahre ich nach Villa Hermosa. Was Sie tun, ist Ihre Sache, nicht meine.« Dann besann er sich und hob die Hände. »Nein, keine Sorge, das Geld für die Rückfahrt gebe ich Ihnen. Auch das für ein Hotel für die Nacht. Ich gebe Ihnen so viel Geld, wie Sie wollen, wenn ich Sie damit nur endlich los bin.«
»Sie werden mich nicht los«, sagte Anavera. Dieser Wahnsinn durfte nicht umsonst gewesen sein. Sie konnte nicht mit leeren Händen den endlosen Weg zurückfahren, ohne einen Schimmer Hoffnung für Josefa und Tomás. »Es sei denn, Sie fahren mit mir in die Hauptstadt zurück und übernehmen die Verantwortung für das, was Sie dort angerichtet haben. Danach sind Sie mich los. Glauben Sie mir, selbst als Schwägerin werde ich froh sein, wenn ich Sie so selten sehen muss wie irgend möglich.«
»Als Schwägerin?« Diesmal klang sein Lachen eher verblüfft als hämisch. »Sie glauben also allen Ernstes, ich würde die Tochter eines Barbaren heiraten, nur weil sie wie hundert andere behauptet, ich hätte ihr einen Bastard gemacht?«
Sie wollte sich nicht wieder aufregen, denn es war sinnlose Kräftevergeudung. Sie würde diesen Mann nicht bessern. Wenn es überhaupt jemand konnte, dann war es Josefa, die ihn liebte. Tatsächlich fiel es ihr leicht, gelassen zu bleiben. Seine Beleidigungen hatten sich abgenutzt, und stattdessen fiel ihr auf, wie merkwürdig sie waren. »Sie haben meine Schwester geliebt«, sagte sie ruhig. »Sie haben mit ihr gelebt und sie in den Armen gehalten, und daraus ist Ihr gemeinsames Kind entstanden. Deshalb müssen Sie sie heiraten. Weil es das ist, was Ehrenmänner tun. Wie meine Schwester mit Ihnen glücklich werden soll, weiß ich beim besten Willen nicht. Aber wie ein Mann mit Josefa glücklich werden soll, weiß ich. Josefa ist ein durch und durch famoses Mädchen. Sie können Ihrem Schöpfer danken.«
Das Schnauben und Fauchen, mit dem der Zug zum Stillstand kam, unterbrach sie, und im Durcheinander der folgenden Stunden kamen sie nicht dazu, das Gespräch fortzusetzen. Sie schienen in einer fremden Welt gelandet zu sein, in einer flimmernden Tropennacht, die nach Gewürzen, überreifen Früchten, frischem Schweiß auf Menschenleibern und nach dem Meer roch. Anavera hatte es nie gesehen, aber daran, dass der salzige, geradezu sämige Geruch zum Meer gehörte, hegte sie keinen Zweifel. Das Menschengewimmel auf dem Bahnhof schien bunter, dichter, rätselhafter als in Mexiko-Stadt. Sie hatte nicht gewusst, dass es Menschen in so vielen verschiedenen Hautfarben gab, so viele Sprachen, die sich zu einem Singsang mischten, so viele Ziele und Absichten, die Arm und Reich, Jung und Alt, Händler, Reisende, Bettler, Polizisten und Diebe zwischen den Gleisen vereinten.
Sanchez Torrijas Sohn war von diesem Bahnhof überfordert. Anavera musste es in die Hand nehmen, eine Agentur zu finden, die ihnen Zimmer für die Nacht vermieten würde. Dass er es hasste, wenn Menschen gegen ihn
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