Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Lobato
Vom Netzwerk:
Zweideutigkeiten zu bedenken war ein Affront. »Ich verlange augenblicklich eine Möglichkeit der Weiterreise. Meinetwegen einen Reisewagen, und meinetwegen bezahle ich dafür, auch wenn ich die Eisenbahngesellschaft für den Schaden verklagen werde.«
    »Ich bedaure, Señor«, nuschelte die Schildkröte. »Leider können wir Ihnen keinen Wagen auftreiben, und wenn Sie alles Geld der Welt dafür zahlen würden.«
    Ehe er dem Kerl die passende Erwiderung geben konnte, vernahm er neben sich die Stimme des Mädchens. »Ihr Benehmen ist furchtbar ungezogen. Haben Sie nicht gehört? Es ist ein Mann vor den Zug gefallen. Er ist gestorben, ja?«
    Die Schildkröte bekreuzigte sich, und das Mädchen tat dasselbe. »Ja, Señorita. Der Zugführer hat gebremst, und wir haben versucht ihn unter den Rädern der Lokomotive hervorzuziehen. Leider aber war das nicht möglich. Der Zugführer hat dann, weil die Passagiere unruhig wurden, versucht über ihn hinwegzufahren.«
    »Mit dem ganzen Zug über den Toten?«, fragte das Mädchen erschrocken.
    Die Schildkröte nickte. »Dabei hat ihn dann leider der besagte Schwächeanfall übermannt. Er fiel wie ein Stein vom Sitz und liegt nun in Ohnmacht, weshalb kein Weiterfahren möglich ist.«
    »Und wegen einer solchen Lappalie halten Sie einen Zug an?«, wütete Jaime, dem beim Gedanken an den auf den glühenden Schienen festgefahrenen Leichnam übel wurde. »Welcher Idiot bringt es überhaupt fertig, mitten in der Wildnis ausgerechnet vor einen Zug zu fallen?«
    »Es war einer der Gleisarbeiter, Señor.« Die Schildkröte tippte sich an die Mütze.
    »Gleisarbeiter? Auf einer befahrenen Strecke?«
    »Die Gleisarbeiter machen neuerdings auf beinahe allen Strecken Schwierigkeiten, Señor. Sie sagen, sie können von dem, was ihnen gezahlt wird, nicht leben, zumal sie, sobald die Arbeit an einem Streckenabschnitt beendet ist, entlassen werden.«
    »Ja, was soll man denn sonst mit ihnen machen? Sie durchfüttern?«
    »Ich bin kein Gleisarbeiter, Señor«, erklärte die Schildkröte mit komischer Würde. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass diese Protestler uns in letzter Zeit ständig etwas auf die Schienen werfen, Baumstämme, Tierkadaver, sogar ausgewachsene Felsbrocken. Wenn da ein Zugführer nicht schnell genug reagiert, kann das einen Zug zum Entgleisen bringen. In jedem Fall aber muss das Gut erst einmal von den Schienen entfernt werden, was leider zu Verspätungen führt.«
    »Wollen Sie sagen, die Gleisarbeiter haben aus Protest einen ihrer eigenen Kameraden auf die Schienen gestoßen?«, rief das Mädchen.
    »Nein, Señorita. Wir müssen wohl annehmen, dass der arme Sünder verzweifelt genug war, um selbst sein Leben dem Zug zum Fraß vorzuwerfen.«
    »Herrgott, kann man in diesem verfluchten Land nicht eine einzige Reise antreten und ohne Unbill sein Ziel erreichen?«, fuhr Jaime dazwischen.
    »Leider nein, Señor«, erwiderte die Schildkröte betrübt. »Und ich befürchte, das ist keineswegs der schwerste Fluch, mit dem unser armes Land geschlagen ist.«
    Jaime wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch das Mädchen packte ihn beim Gelenk. Mich fasst nur an, wem ich es gestatte, wollte er sie anherrschen, doch stattdessen starrte er fassungslos auf ihre Hand hinunter. Braun wie eine Affenklaue war sie, dabei aber auffallend schlank und schön geformt. So wie die des Barbaren. Fester, als es gewöhnlich einer Frauenhand möglich war, umspannte sie sein Gelenk und grub die Finger schmerzhaft in sein Fleisch. »Es ist jetzt genug, Señor Sanchez Torrija«, wies sie ihn wie einen dummen Jungen zurecht. »Ihre Eltern sind tot, dafür gebührt Ihnen mein Mitleid. Können Sie nicht trotzdem daran denken, wie zumindest Ihre Mutter sich schämen würde, wenn sie wüsste, wie Sie sich im Angesicht eines Todesfalls betragen?«
    Sein Großvater hatte dasselbe gesagt: Kannst du nicht einmal daran denken, wie deine arme Mutter sich für dich schämt? Jaime riss sich los und hob die Hand, um das Mädchen zu schlagen. Ohne Grund erstarrte er in der Bewegung. Das Mädchen stand still und sah vollkommen furchtlos zu ihm auf. Er ließ die Hand sinken.
    »Kommen Sie«, sagte sie in merkwürdigem Ton. »Ich glaube, Sie sollten sich ausruhen. Sie haben sich zu sehr aufgeregt.« Wieder fasste sie ihn ums Gelenk, strich aber diesmal zuerst die Manschette seines Hemds herunter, so dass ihre Finger seine Haut nicht berührten. Dann ging sie ihm voran den Gang entlang.
    Jaime konnte nicht glauben, dass er ihr

Weitere Kostenlose Bücher