Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
nicht.
»Hältst du es für möglich, dass sie in irgendeiner Pension abgestiegen ist?«, fragte ich. »Um morgen weiterzumachen. Und dass sie dich nicht verständigt und auch nicht an ihr Handy geht, weil sie zu wütend ist?«
»Das wäre natürlich möglich«, meinte Ken zögernd.
Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr glaubte ich, dass es sich genau so verhielt. Ich kannte Alexia, kannte sie vielleicht sogar besser als Ken, zumindest wesentlich länger. Ich wusste, wie empfindlich sie war, wie aufbrausend, wie heftig in all ihren Gefühlen. Niemand konnte so tief und so anhaltend beleidigt sein wie sie, und manchmal verhielt sie sich geradezu rachsüchtig, oft genug hatte ich während unserer Kindheit und Jugend unter diesem Wesenszug gelitten. Im Grunde passte es perfekt zu ihr: Ken hatte sein Unverständnis für ihr Verhalten geäußert, sie war stocksauer auf ihn, und nun ließ sie ihn schmoren. Mietete sich irgendwo ein Zimmer, schmollte dort vor sich hin, verkroch sich geradezu in ihrem Elend und ignorierte mit einer gewissen Wollust ihr Handy. Sollte er sich ruhig sorgen und grämen und sich fragen, wo sie steckte. Geschah ihm ganz recht.
»Ken, ich denke wirklich, du musst dir nicht allzu viele Sorgen machen«, sagte ich. »Gerade weil ihr im Streit auseinandergegangen seid, muss Alexia nun …« Ich zögerte kurz, aber warum sollte ich es nicht so sagen, wie es war?
»Du kennst sie doch. Manchmal muss sie eine solche Show abziehen. Anders beruhigt sie sich nicht wieder. Sie fühlt sich unverstanden, und das ist immer das Schlimmste für sie. Nun schlägt sie zurück. Jede Wette, dass sie morgen wieder auftaucht und sich dann einigermaßen normal benimmt!«
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Ken. Seine Stimme klang etwas befreiter, nicht mehr ganz so sorgenvoll und unglücklich. Offenbar hatte ich ihn zumindest halbwegs überzeugt. »Aber falls sie sich bei dir meldet …«
»… sage ich dir sofort Bescheid«, versprach ich. »Das ist doch klar. Und umgekehrt bitte auch. Egal zu welcher Uhrzeit.«
Wir beendeten das Gespräch, und ich ging ins Bett zurück. Allerdings konnte ich nun erst recht nicht einschlafen. Zwar machte ich mir nicht wirklich ernsthafte Sorgen, weil ich ziemlich sicher war, mit meiner Theorie recht zu haben, aber ich musste doch ständig an Alexia denken und daran, dass sie unter einem so zermürbenden Druck stand. Es ging so nicht weiter. Man konnte Alexia inzwischen mit Fug und Recht als ein Mobbingopfer bezeichnen, und als solches brauchte sie Hilfe. Vor allem Menschen, die ihr klarmachten, dass sie sich das Verhalten ihres Chefs nicht länger gefallen zu lassen brauchte. Sie musste weg von Healthcare . Sie musste sich unbedingt eine neue Stelle suchen.
Aber würde das wirklich so einfach sein? Die Jobs lagen nicht gerade auf der Straße. Einen neuen Arbeitgeber würde Alexia überzeugen müssen, dass man es mit dem alten Argilan tatsächlich nicht hatte aushalten können, aber bei Geschichten dieser Art geriet man unweigerlich auch selbst immer in den Verdacht, derjenige gewesen zu sein, mit dem kein Auskommen möglich gewesen war, der sich nicht hatte anpassen können, der sich nicht teamfähig gezeigt hatte und was sonst noch alles. Vielleicht würden sich etliche neue Probleme vor ihr auftun, wenn sie kündigte, und die Reeces hätten eine Durststrecke vor sich – die bei ihnen schnell in ein Desaster münden konnte. Vier Kinder waren zu versorgen, dazu kam die Abzahlung für das Haus. Ken konnte sich wieder eine Stelle als Schiffsbauingenieur suchen, aber wer wusste, wie bald er Erfolg haben würde? Es konnte schnell eng für die Familie werden.
Zum ersten Mal verstand ich in jener Nacht wirklich den Druck, mit dem Alexia lebte, und die Sorgen, die sie sich machte, und plötzlich tat es mir leid, dass ich sie im Stich gelassen hatte. Ich hatte kein Problem darin gesehen, ihre Bitte einen Tag später zu erfüllen als geplant, und tatsächlich gab es auch kein Problem, aber hätte ich mich etwas sensibler in sie hineingedacht, wäre mir klar gewesen, dass es darum gar nicht ging. Entscheidend war, was Alexias Nerven derzeit aushielten, und da ging die Tendenz gegen null. Ich hätte das wissen müssen. Ich hätte sie zumindest anrufen müssen, anstatt ihr nur eine SMS zu schicken. Dann hätte ich mit ihr sprechen, sie beruhigen und trösten können.
Plötzlich kam ich mir vor wie ein riesengroßer Trampel. Ich konnte nur hoffen, dass ich keine Katastrophe
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