Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
Jüngste unter die Nase halten, damit sie den Ernst der Lage kapierte. Diese Frau war zum Reden zu bringen.
Man musste nur den richtigen Punkt finden, an dem man ansetzen konnte.
4
Freitag. Er war seit Mittwoch verschwunden. Hatte sich nicht blicken lassen, hatte sich nicht ein einziges Mal gemeldet.
Nora hatte sich für den ganzen Rest der Woche krankschreiben lassen. Sie fühlte sich so elend und verzweifelt, dass an Arbeit gar nicht zu denken gewesen wäre. Sie war zu einem Arzt gegangen, der schon nach einem einzigen Blick auf sie bereit gewesen war, ihr ein Attest auszustellen. Organisch sei sie gesund, hatte sie ihm gesagt, aber sie sei zu Tode erschöpft, ausgelaugt, am Ende ihrer Kräfte.
»Sie bräuchten dringend eine Kur«, sagte der Arzt. »Meiner Ansicht nach stehen Sie kurz vor einem Burn-out, und damit ist nicht zu spaßen.«
Sie brauchte keine Kur, aber das konnte sie ihm nicht sagen. Sie brauchte eine Klärung ihrer Lebensumstände. Sie brauchte eine Erleichterung ihres Gewissens. Seitdem Ryan ihr von Vanessa Willard erzählt hatte, lief Nora mit einer Schuld auf ihren Schultern herum, die sie erdrückte. Und seitdem sie von Ryans seltsamem Verhalten, seinem stundenlangen Herumlungern vor fremden Häusern gehört hatte, hegte sie die entsetzliche Furcht, er könne auch mit dem Verschwinden von Alexia Reece etwas zu tun haben. Alexia Reece irgendwo in einer Kiste eingesperrt. Oder auch nur in einem Keller, in einer Höhle, wo auch immer. Eine vierfache Mutter, das jüngste Kind war eineinhalb Jahre alt. Detective Inspector Morgan war noch einmal da gewesen. Sie hatte von den verzweifelten Kindern erzählt. Von dem verzweifelten Ehemann. Von der Angst der Familie, der unerträglichen Ungewissheit.
Auch Melvin Cox war aufgekreuzt, Ryans Bewährungshelfer.
»Bitte, Sie helfen ihm nicht, wenn Sie ihn decken, Nora. Das ist falsch verstandene Treue. Er hat vielleicht überhaupt nichts Böses getan und einfach nur einen Riesenschreck bekommen, als er merkte, dass die Polizei bei seinem Chef war. Er k önnte das womöglich ganz leicht aufklären, aber dazu müssten die Beamten mit ihm reden können. Weglaufen macht alles schlimmer. Seien Sie eine echte Freundin und sagen Sie mir, wo er ist.«
Aber sie wusste es wirklich nicht. Sie wusste allerdings andere Dinge, und die hätte sie dringend weitergeben müssen. Doch das wäre Verrat gewesen. Sie wünschte so sehr, er würde sich in irgendeiner Art melden. Dann hätte sie alles darangesetzt, ihn zu einem Geständnis zu bewegen. Erzähl der Polizei von Vanessa Willard. Erlöse ihren Mann von der Ungewissheit. Und wenn du weißt, wo Alexia Reece ist, dann sag es, bitte! Bitte!
Aber er tauchte nicht auf, rief nicht an. Dabei ahnte sie, dass es ihm dreckig ging. Er hatte kein Geld, keine Unterkunft. Er musste sich ständig versteckt halten, aber es gab keinen sicheren Ort. Er hatte sich nicht an seine alte Freundin Debbie gewandt, das wusste Nora, weil DI Morgan ihr berichtet hatte, die Polizei sei mehrfach dort gewesen. Ob er versuchen würde, zu seiner Mutter zu fliehen? Die Beecrofts waren von der ganzen Sache in Kenntnis gesetzt worden, die Polizei in Yorkshire behielt sie im Auge. Nora hatte inzwischen bemerkt, dass auch vor ihrer Haustür ein Beamter postiert war, aber Ryan hätte anrufen können. Dass er das nicht tat, bewies ihr, dass er kein Vertrauen mehr zu ihr hatte, und das schmerzte sie am meisten. Er hatte ihre Gefühle nie erwidert, aber sie hatte doch während der letzten Monate zu spüren geglaubt, dass er sie als jemanden empfand, der fest an seiner Seite stand. Doch dann hatte er ihr von Vanessa Willard erzählt, weinend und zitternd, und sosehr sie sich bemüht hatte, ihre eigene Fassungslosigkeit, ihr fast atemloses Entsetzen zu verbergen, war ihm doch klar geworden, dass er sie jetzt in ihren Grundfesten erschüttert hatte. Sie war nicht mehr der Fels in der Brandung. Er hatte begonnen, in ihr jemanden zu sehen, der möglicherweise die Seiten wechseln würde. Vielleicht hatte er sogar geglaubt, sie habe an jenem Mittwoch die Polizei verständigt. Es sei auf Noras Initiative zurückzuführen, dass die Beamten plötzlich im Copyshop gestanden hatten.
Und dann würde er den Teufel tun, noch einmal in Kontakt mit ihr zu treten.
Am Freitagmittag war Nora völlig fertig mit den Nerven, und sie hatte den Eindruck, dass alles immer schlimmer wurde, je länger sie untätig in ihrer Wohnung herumsaß. Sie musste ständig an Alexia Reece
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