Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
wie vom Erdboden verschluckt zu sein, und nun war anscheinend auch Ryan Lee, ein Gewohnheitsverbrecher, der sich mehr als verdächtig benommen hatte, untergetaucht. Er hatte sich den ganzen Nachmittag über nicht mehr in dem Copyshop blicken lassen, obwohl er, wie sein Arbeitgeber widerwillig einräumte, bislang recht zuverlässig gewesen war. Er hatte ein einziges Mal unentschuldigt gefehlt und war einmal zu spät gekommen. Für einen Mann wie Ryan Lee zeigte dies ein ungewöhnlich ausgeprägtes Bemühen, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, und es hieß außerdem, dass es einen guten Grund für ihn gab, aus der Mittagspause nicht zurückzukehren. Er musste bemerkt haben, dass die Polizei da war. Morgan hatte kräftig geflucht, als ihr dies klar wurde.
Morgan und Jenkins waren dann zu Noras und Ryans Wohnung gefahren, hatten Ryan dort jedoch nicht angetroffen. Dafür zu ihrer Überraschung eine verweinte Nora, die ihnen im Morgenmantel und mit bloßen Füßen öffnete und etwas von einer Migräneattacke murmelte, derentwegen sie sich für den Rest des Tages habe beurlauben lassen. Morgan hatte erneut nach Ryan gefragt und dabei versucht, in die Wohnung zu spähen. Sie und ihr Kollege hatten keine Ermächtigung, sich dort umzusehen, aber Nora hatte sie bereitwillig hereingelassen, hatte sogar die Tür zu Ryans Zimmer geöffnet. »Er ist nicht da. Wenn er nicht an seinem Arbeitsplatz ist, dann weiß ich auch nicht. Keine Ahnung.«
Morgan fragte sich, ob man ihr glauben konnte. Auch jetzt, während sie daheim ihre Schuhe von den Füßen streifte, sich die Hände wusch und eine ziemlich verdorrte Zimmerpflanze mit Wasser versorgte, dachte sie über Nora Franklin nach. Morgan waren Frauen, die gezielt Beziehungen mit Männern aufbauten, die im Gefängnis saßen, ein totales Rätsel. Sie wusste, dass eine romantische und meist völlig realitätsferne Verklärung der Männer und ihrer kriminellen Lebensumstände eine Rolle spielte, und es wunderte sie natürlich nicht sehr, dass eine Frau wie sie selbst, mit ihrem Beruf, dieser Verklärung nur kopfschüttelnd gegenüberstehen konnte. Die Nora Franklins dieser Welt waren meist völlig unbescholtene, rechtschaffene Bürgerinnen, die dann jedoch für einen Schwerverbrecher das Blaue vom Himmel herunterlogen, um ihn zu schützen und abzusichern. Mädchen, die sich außer einem Strafzettel für falsches Parken noch nie etwas hatten zuschulden kommen lassen, leisteten plötzlich bereitwillig einen Meineid und riskierten es, selbst mit einem Bein im Gefängnis zu stehen und ihre ganze Zukunft dabei aufs Spiel zu setzen. Morgan fand das einfach nur schrecklich und tragisch. Denn schließlich bekamen diese Frauen ihre rückhaltlose Hingabe von den Männern keineswegs in Form von Liebe, Dankbarkeit und ewiger Treue vergolten, sondern wurden einfach nur ausgenutzt und schließlich fallen gelassen, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden. Die Abläufe waren absolut vorhersehbar und wiederholten sich dennoch immer wieder.
Allerdings hatte Morgan bei ihrem zweiten Zusammentreffen mit Nora Franklin heute den Eindruck gehabt, dass diese Frau tatsächlich nicht wusste, wo Ryan steckte. Sie machte sich große Sorgen und war völlig aufgelöst, und das schien nicht gespielt zu sein. Ryan Lee war nicht an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt und hatte wahrscheinlich noch keine Gelegenheit gehabt, sich mit Nora in Verbindung zu setzen, daher tappte auch sie noch über seinen Verbleib im Dunkeln.
Olivia Morgan stand in der Küche und überlegte, ob sie sich die Mühe machen sollte, ein richtiges Abendessen zu kochen, oder ob es einfacher wäre, sich ein Glas Wein einzuschenken und dazu ein Stück Cheddarkäse aus der Hand zu essen. Vielleicht rief sie auch ihren Freund an und fragte ihn, ob sie sich in einem Pub treffen wollten. Als sie gerade die Hand nach ihrem Telefon ausstreckte, klingelte der Apparat. Sie nahm noch während des ersten Läutens ab. »Ja?«
»Meine Güte, Inspector, haben Sie selbst daheim das Telefon an sich kleben?« Es war DS Jenkins. »Sie haben mich jetzt richtig erschreckt, so schnell, wie Sie sich gemeldet haben!«
»Tut mir leid. Was gibt’s?«
»Ich habe ja meine Fühler ausgestreckt, um Erkundigungen über diesen Ryan Lee einzuziehen, und dabei habe ich herausgefunden, dass er eine Mutter und einen Stiefvater in Yorkshire hat. Sein leiblicher Vater lebt nicht mehr.«
»Könnte er versuchen, sich dorthin durchzuschlagen? Zu seiner
Weitere Kostenlose Bücher