Im Tal des Fuchses: Roman (German Edition)
befanden, nicht mehr wusste, ob es nicht auch begrüßenswert wäre, wenn sie die Höhle nicht fanden. Sie hatte Angst. Tiefe, schreckliche Angst, die ihr den Magen zusammenzog und sie immer wieder trocken schlucken ließ.
Diesmal war Noras Bewacher ihr ganz sicher gefolgt, das hatte sie im Rückspiegel ihres Autos feststellen können. Er hatte ein Stück entfernt von Debbies Haus geparkt, und Nora war hineingegangen, mit nichts bewaffnet als ihrer Handtasche. Debbie hatte gesagt, sie werde sich um Werkzeug und Taschenlampen kümmern, damit Nora keinen Verdacht erregte, indem sie sperrige Gegenstände mit sich führte.
Die beiden Frauen hatten keine Zeit verloren. Sie waren durch das Wohnzimmerfenster in einen kleinen Hof geklettert und hatten dann über etliche Zäune hinweg und schließlich durch einen schmalen Gang zwischen zwei Häusern hindurch die Straße auf der anderen Seite des Blocks erreicht. Hier parkte Debbies Auto, in dem sie bereits alles verstaut hatte, was sie möglicherweise brauchen würden. Vorsichtshalber nahmen sie einen großen Bogen durch die umliegenden Straßen, ehe sie Swansea verließen und in Richtung Westküste fuhren. Nora drehte sich immer wieder um, aber es war völlig klar, dass ihnen niemand folgte. Der Bewacher stand noch immer vor Debbies Haus und wartete, was geschehen würde.
Der erste Schritt hat jedenfalls geklappt, beruhigte sich Nora. Das Erfolgserlebnis beflügelte sie, vermochte jedoch nicht, ihre Furcht zu betäuben. Mit jeder Meile, die sie zurücklegten, näherten sie sich einem Alptraum. Was immer sie in der Höhle finden würden oder was immer sie auch nicht fanden, es stellte die Konfrontation mit einem Ryan Lee dar, den sie beide von dieser Seite nie im Leben hatten kennenlernen wollen.
Nun also waren sie in Camrose, dem Ort, in dem Ryan während seiner Kindheit gelebt hatte. Unter dem dunklen Himmel mit den tief hängenden anthrazitgrauen Wolken und in dem Regen sah es ziemlich trostlos aus. Eine Ansammlung von Häusern, Gärten, die von Nässe trieften, dicht belaubten Bäume n, die an einem Tag wie diesem alles noch düsterer erscheinen ließen.
»Wissen Sie, welches Haus das seiner Familie war?«, fragte Debbie.
Nora schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich versuche gerade, ihn hier als kleinen Jungen zu sehen. Der Fußball spielt und Fahrrad fährt und sich die Knie aufschlägt.«
»Es ist schwer vorstellbar«, meinte Debbie.
Ja, das war es. Es war praktisch überhaupt nicht vorstellbar. Der Weg, den Ryan Lee seitdem zurückgelegt hatte, war zu weit. Zu unübersichtlich. Zu schwer zu verstehen.
Kurz hinter dem Dorf mussten sie auf eine Straße abbiegen, die in Richtung Küste führte. Sie war so schmal, dass Nora den Atem anhielt bei der Vorstellung, ihnen könnte jetzt jemand entgegenkommen. Die Mauern rechts und links ließen kein Ausweichen zu. Über der Straße verschränkten sich die Kronen der Bäume, die den Rand säumten. Jenseits der Mauern dehnten sich Felder und Wiesen.
Sie kamen an einem kleinen Campingplatz vorbei, auf dem drei Wohnwagen mit aufgespannten Vorzelten standen. Niemand ließ sich blicken. Die Camper blieben drinnen und hofften, dass sich das Wetter bessern würde.
»Das hier ist das letzte Stück asphaltierte Straße«, sagte Nora schließlich. »Wir kommen dann an einen Feldweg, und schließlich müssen wir direkt durch die Wildnis. Ohne Weg.«
»Ich kann nur hoffen, dass mein Auto das schafft«, sagte Debbie besorgt. »Ich habe nicht viel Geld. Wenn der Wagen kaputtgeht, stehe ich ziemlich dumm da.«
»Es muss klappen«, sagte Nora. »Schließlich ist Ryan ja auch mit einem Auto ziemlich nah an die Höhle herangekommen. Er hatte eine bewusstlose Frau bei sich. Er konnte sie ja nicht meilenweit durch die Gegend tragen.«
»Aber an jenem Abend hat es wahrscheinlich nicht so geregnet. Wenn hier alles matschig ist, wird es schwierig.«
»Es regnet noch nicht lange. Bis alles aufweicht, haben wir Zeit«, beruhigte Nora. Sie studierte ihre Aufzeichnungen. »Langsam jetzt! Hier muss bald der Feldweg kommen, in den wir dann abbiegen.«
Der Feldweg war so hoch mit Gras bewachsen, dass sie ihn beinahe übersehen hätten. Klee, Sauerampfer und Löwenzahn wucherten wild durcheinander, es war die typische heftige Vegetation des Monats Juni. Nur mühsam konnte man erkennen, dass es dazwischen zwei Erdspuren gab, die darauf hinwiesen, dass es sich eigentlich um einen Weg handelte, der gelegentlich – allerdings eindeutig höchst
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